Dienstag, 28. Februar 2012

Alles über einen gewissen Giovanni di Lorenzo ...

Die von mir und vielen meiner Bekannten als geistreich und hochwertig eingeschätzte Wochenzeitung DIE ZEIT sandte mir als Abonnenten vor etwa zwei Wochen mal wieder per E-Mail eine Umfrage zum so genannten "Zeitbarometer" zu. Darüber prangte das sanft lächelnde, lockige Konterfei des Chefredakteurs di Lorenzo. Es waren nur wenige, recht belanglose Fragen a là wie finden Sie Christian Wulf, gefällt Ihnen die Politik der Kanzlerin oder wie schätzen Sie Ihre persönliche Lage gerade so ein, die die ZEIT an mich und meine momentane Stimmung hatte. Dann sollte man ausführlich seine Adressdaten usw. eintragen, was ungefähr so lange dauerte, wie die drei, vier Fragen zu beantworten - und schon konnte man beim tollen Gewinnspiel um eine Reise zu den Azoren mitmachen... Ach, lieber Herr Lorenzo, was liegt Ihnen nur so sehr an meinen Daten? Und wieso braucht ein seriöses Stimmungbarometer ein Gewinnspiel? Machen die das in den TV-Nachrichten auch immer so? - dachte ich. Und löschte die E-Mail. Die ZEIT ist ja seit Jahren voll von Artikeln über Datenmissbrauch und Adressengeschachere!
  Dann erinnerte ich mich, wie meine Lieblingszeitung im letzten Herbst so eine riesige Kampagne für das Buch vom weisesten deutschen ZEIT-Herausgeber aller Zeiten, dem Herrn Altkanzler Schmidt und seinem Protegé, dem Herrn Steinbrück, der so gerne Kanzler werden möchte, fuhr: Mit Titelblatt, Vorabdruck, Skandal-Interview zum Interviewbuch etc. pp. - das Ganze fette Marketingprogramm, das man für ein Buch, das ansonsten keiner braucht, eben so fahren muss. Und wie sich dieses professionelle Spiel, in seiner ganzen Bandbreite, zwei Wochen später wiederholte - diesmal für einen Interviewband des bestausehendSTen Zeitungsredakteur Europas Herrn di Lorenzo mit dem bestaussehendSTen Ex-Politiker der Welt, Herrn von und zu Guttenberg... sensationelle Informationen!! Das verlangt nach Titelseite, Skandal-Interview zum Skandal-Interview und so weiter - eben dem ganzen Marketingprogramm! Wow. Die Leute vom Zeitverlag verstehen wirklich etwas vom Geschäft, finde ich! Geld generieren mit Stürmen im Wasserglas, ähm, Blätterwald.
  Und plötzlich dämmert mir ein ungeheurlicher Verdacht... Man weiß ja mittlerweile genügend über die ausgefuchsten Strategien der Marketingexperten von heute: Das Kind, das uns von der Packung Kinderschokolade entgegenlächelt, ist inzwischen ein alter Mann und hat bereits dritte Zähne. Die junge Dame, die sich so lasziv auf dem Abbild des neuesten Automodells räkelt, hat gar keine Führerschein und heißt auch nicht Nadine! Der Marlboro-Man starb an Lungenkrebs. Und Milli-Vanilli waren gecastete Modells, die gar nicht singen konnten!!!  
  Lieber Giovanni di Lorenzo (auch wenn Sie vermutlich gar nicht so heißen): Sie sind wirklich das bestaussehendSTe Chefredakteursmodell, von dem ich je eine Umfrage-E-Mail bekam, bei der ich meine Daten abgeben sollte!! Wirklich überzeugend auch Ihre enorme darstellerische Leistung bei Diskussionsveranstaltungen und Fernseh-Talkshows. Es ist garantiert nicht einfach, als begabtes Marketingtalent das Wissen und die Eloquenz eines Chefredakteurs von Weltrang so erfolgreich  darzustellen. Jetzt verstehe ich immerhin auch, warum Sie immer so sanft hauchen... Sie sind bei den Marketinggenies des Zeitverlags unter Dauervertrag. Und Ihr eigener, durchschlagender Erfolg lässt Sie da nicht raus!
  Schade nur, dass Sie mir in Ihrem Leser-Videoblog auf ZEIT online nicht geantwortet haben, als ich Sie fragte, was eigentlich mit den Daten all derer gemacht wird, die sich am Zeitbarometer beteiligten. Aber, falls mein Verdacht zuträfe, auch geradezu LOGISCH!! Sie können es gar nicht wissen, Sie sind ja ein Produkt der Marketingabteilung. Übrigens hat mir dafür etwas mehr zwei Wochen nach meiner Rück-E-Mail auf die Umfrage nun bereits ein kompetenter Mitarbeiter des ZEIT-Marketing-Teams sachkundig geantwortet. Ein gewisser Herr Marius Mueller (der Sie vielleicht sogar gecastet hat?) schrieb:
>> 
Sehr geehrter Herr Jankowski,
vielen Dank für Ihre Nachricht. Bitte entschuldigen Sie meine späte Antwort. Je nachdem, ob der Teilnehmer der Umfrage zugestimmt hat, dass seine Daten anderweitig verwendet werden dürfen, gehen wir auch mit seinen Daten um. Generell haben wir den Ansatz, dass wir Daten auf Wunsch restlos löschen oder alternativ für jegliche weitere Verwendung sperren.
Ich hoffe ich konnte Ihnen weiterhelfen. Sollten Sie noch weitere Fragen haben, wenden Sie sich gerne jederzeit an mich.

Herzliche Grüße aus dem Hamburger Pressehaus
Marius Müller
<<
Man verwendet die Daten bei Zustimmung also "anderweitig". Ahaaa! Dankeschön für die Aufklärung. (Zu ergänzen wäre, dass die Zustimmung am Ende der Umfrage anzukreuzen war und die dazugehörigen, extra aufzurufenden AGB ungefähr Hunderte ellenlanger kleinSTgedruckter Paragraphen enthielten, aus denen für einen normalen ZEIT-Leser wie mich leider keineswegs hervorging, was mit den Daten "für das Gewinnspiel" eigentlich geschehen wird. Nur so viel: Sie werden nicht nur für das Gewinnspiel verwendet.)
  Ja, es ist immer wertvoll zu wissen was die Leser so denken. Nicht wahr, liebe Sklavenhalter des begabten Herrn di Lorenzo? Ich fordere: Freiheit für Giovanni di Lorenzo! (Oder wie auch immer der heißt, den ich eigentlich meine...)

Samstag, 11. Februar 2012

Die griechische Tragödie (Coda)


Gestern Abend sind wir alle zusammen noch mal in das Restaurant von vorgestern gegangen in der Hoffnung, dass es wieder so gemütlich würde - und es wurde.  Das Essen schmeckte wieder wunderbar (frisch zubereitete Musaka, Suflaki usw.) und tatsächlich kamen nach einer Weile auch die Musiker wieder. Die großartige, starke Stimme des Bouzoukimanns wurde dieses Mal nicht nur durch die zweite Stimme des unermüdlichen Gitarristen begleitet, sondern auch von der klaren hellen Stimme einer jungen Frau mit einem Vorhang aus schwarzen Haaren und einem wohlgeformten griechischen Kinn und schwarzen Augen, deren schönes Gesicht uns mit seiner Mischung aus Schüchternheit und lässigem Stolz völlig faszinierte, von der Stimme ganz zu schweigen (die schöne Anna aus Barcelona starrte ebenso wie ich mit offenem Mund auf diese Erscheinung). Sofokles Sofokleús von Zypern meinte, sie sängen nur traditionelle Volkslieder, obwohl der mitreißende Gypsy-Stil mitunter fast an Django Reinhardt und Ähnliches erinnerte – uns erstaunte erstens, wie viele wunderbare Lieder die Musiker (offenbar Studenten) auswendig kannten (es mussten fast Hunderte sein, und zwar jeweils bis zur siebten Strophe) und zweitens, welche interessante stilistische Mischung die griechische Volksmusik offenbar hat: Zum einen die mitreißenden mehrstimmigen Harmonien russisch-kaukasischer Lieder mit ihren rhythmischen Steigerungen, zum anderen einen raffinierten Einschlag aus arabischen Tonfolgen, die die harmonischen Hörerwartungen mitteleuropäischer Ohren fortwährend mit reizvollen Wechseln überraschen, indem sie einen halben Ton tiefer als „richtig“ abbiegen oder (im Prinzip auf die selbe Weise) mit häufigen Wechseln zwischen Dur und Moll einen fremdartigen Klang erzeugen, der durch die östlichen Halbton-Vibrati der Sänger noch verstärkt wird.
  Heute Morgen lief alles wie geplant, von Streik oder Unruhe nichts zu spüren, Frühstück und Abreise völlig entspannt. (Der einheimische Rezeptionist erzählt uns beim Warten kurz von einem Krankenhaus, in dem er neulich behandelt wurde: Es hätte sage und schreibe 35 angestellte Gärtner gehabt! Der Clou: Es gab gar keinen Garten.) Unser Taxi kam innerhalb von zwei Minuten, für einen Generalstreik ziemlich schnell. Nur am Busbahnhof weigerte sich der Ticketverkäufer mit Cristina Englisch zu reden, erst als sie den demonstrativ auf Griechisch angesagten Preis mehrfach nicht verstand, ließ er sich dazu herab, ihr in perfektem Englisch zu antworten ( - hatte er einfach keine Lust, schlechte Laune oder war sie ihm „zu sehr EU“, wir wissen es nicht). Auf der zweieinhalbstündigen Fahrt nach Thessaloniki  (die Zyprioten sagten Saloniki, ich Salon Nicki, haha) verwandelt sich der Nieselregen wieder in weißen Schnee und noch einmal erscheinen die Thessalischen Sümpfe uns als nordeuropäisch-schwarzweiße Winterlandschaft ganz ohne Palmen, Orangenbäume und Möwen. Dann zeigt sich, dass der graue Streifen hinter der Ebene doch das Meer ist, selbst hinter der thüringischen Hügelburg, das war uns auf dem Hinweg im Dunkeln nicht aufgefallen. Auch Thessaloniki, als wir dann im lokalen Bus sitzen, erscheint als völlig andere Stadt als bei der Ankunft: Weitläufig, großzügig, belebt von dichtem Verkehr und breiten, mit Palmen bestandenen Boulevards, die von Passanten und fahnenstrotzenden Demonstrationszügen nur so überfüllt sind. Es ist Samstag, also Wochenende, und Generalstreik hin oder her: Griechenland lebt auf.

Die griechische Tragödie (3)


Schneeregen bei grau verhangenem Himmel und Plusgraden. Das Jugendgefängnis von Volos ist ein flacher Gebäudekomplex mitten in der Oberstadt. Ioannis meint, er sei Ende der Siebziger in noch relativ unbesiedelter Gegend errichtet worden, später hätte jemand günstig Grund darum herum erworben und Billigstwohnungen gebaut (das nahe Gefängnis drückte die Preise extrem)  - jetzt klagen Mieter und Besitzer gemeinsam gegen die „gefährlichen Nachbarn“ und wollen, dass das Gefängnis nach außerhalb der Stadt verlegt wird.
  Innen alles eng, funktional und primitiv wie in einer Russenkaserne der Achtzigerjahre. Die wuselnden Beamten nehmen uns die Pässe ab und winken uns fröhlich durch die Kontrolle, obwohl bei wirklich jedem von uns der Metalldetektor anschlägt. („Its Greece, you know, hahaha.“) Die Tasche mit meinem unentbehrlichen Laptop wird uns allerdings abgenommen und kontrolliert, wir bekommen sie später gebracht, sagt man.
  Kurzes Hallo im engen Büro des recht jungen Direktors, die fröhliche Sozialarbeiterin übersetzt und erklärt alles. 152 jugendliche Ausländer (ausschließlich!) zwischen 17 und 21 Jahren in einem Knast für 80 Personen, an dem seit der Erbauung in den Siebzigern so gut wie nichts gemacht wurde. Die Zellen usw. bekommen wir nicht gezeigt, aber da die drei mit viel Phantasie umfunktionierten „Klassenzimmer“ der gastgebenden Knastschule vorher reguläre Zellen waren, können wir uns ein Bild machen: Wo in Deutschland höchstens zwei Leute zusammen dauerhaft untergebracht werden dürften, wohnen hier acht Leute. Der größte Raum fasst 22 Häftlinge, einige müssen auf dem Boden schlafen. Fast niemand kann richtig Griechisch, es ist ein reiner Ausländerghettoknast: „alles andere gäbe nur dauernde Kämpfe“… (so viel zum Thema Xenophobie). Also ist Griechischlernen das wichtigste Fach. („Aber das ist verdammt schwer, nicht nur für Knackis.“)  Nur die (dominierenden) Albaner bekommen hin und wieder familiären Besuch, alle anderen (Araber, Pakistaner etc.) sind ganz auf sich gestellt. (Die Schwarzen enthält man uns ganz vor, sie werden nicht einmal erwähnt.) Man zeigt uns also eigentlich gar nichts vom Knast, aber dafür dürfen wir etliche Gefangene der Gymnasialstufe nicht nur treffen, sondern verbringen den Vormittag mit und unter ihnen in der Schule genannten Zellenenge.
  Mich spricht Ali an, ein umgänglicher, höchstens zwanzigjähriger Libanese mit auffallend heller Haut, dunkeln Haaren und blauem Sweatshirt, der fließende Deutsch spricht, und zwar, weil er, wie er sagt, in Bremen geboren sei. Und das ist seine Geschichte: Er hat in Bremen, wo er aufwuchs, „Mist gebaut“ und wurde daraufhin abgeschoben, als er achtzehn wurde -  während seine gesamte Familie in Deutschland blieb. Er kam so zum ersten Mal in seinem Leben in den Libanon: Er kannte niemanden und konnte die Sprache nicht. Von seinem Ersparten mietete er sich eine Wohnung und nahm einen Hilfsjob in einer Garküche an. Er lernte „auf der Straße“ mühsam Arabisch und musste sieben Monate warten, ehe die libanesischen Behörden seinen Reisepass freigaben. Dann raffte er sein restliches Erspartes zusammen und machte sich über Syrien und die Türkei auf den Weg in seine Heimat: Bremen… Er bezahlte einen türkischen Schlepper, ihn nach Griechenland zu bringen (was der entscheidende und gefährlichste Schritt zurück nach D ist). An der Grenze wurden sie gestellt, aber der Schlepper konnte entkommen, er sprang in den Fluss und schwamm zur türkischen Seite, die ein griechischer Grenzer niemals betreten würde. Jetzt hatten sie nur noch die abgezockten Einwanderer. Außer Ali waren alle anderen Schwarze. Weil Ali trotz arabischen Typs fast weiß aussieht, wurde er für den Schlepper gehalten und wegen illegalen Menschenhandels verhaftet. Während die anderen nach ein paar Tagen allesamt freikamen, schickte man ihn ins Jugendgefängnis von Volos, wo er nun seit zehn Monaten auf sein Verfahren wartet. Ali sagt, es würde in den nächsten Wochen an einem Gericht nahe der türkischen Grenze stattfinden, dort, wo man ihn geschnappt hatte. Er will seine Unschuld so beweisen:  Er besitzt einen Reisepass, in dem durch Grenzstempel bewiesen ist, dass er vom Libanon kommend (den er sieben Monate nicht verlassen hatte) nur einen Tag in Syrien und einen Tag in der Türkei verbrachte, ehe er verhaftet wurde. In dieser Zeit hätte er unmöglich zu einem Mitglied der der türkischen Schleppermafia werden können, sagt er. Und ist zuversichtlich, dass er freigesprochen wird. Derweil bemüht er sich Griechisch zu lernen, obwohl er auf die Griechen nicht gut zu sprechen ist: Seine letzten 1500 Euro habe er einem hiesigen Anwalt gegeben, um ihn rauszuhauen, der aber schon zum ersten Termin vor dem Haftrichter nicht erschienen sei und sich seitdem auch nie wieder hätte blicken lassen.  Wie die meisten hier hat er auch nie Besuch, seine Familie bleibe vorsichtshalber in Bremen, wo er bald eine türkische Deutsche heiraten wolle.
  Keine Ahnung,wie weit ich Alis Geschichte trauen kann, aber ich finde ihn, ähnlich wie die meisten anderen der ca. 10 Jungs, die wir kennenlernen, ziemlich unkompliziert und umgänglich. Auffällig ist, dass sie durchweg sehr diszipliniert und ausgeglichen wirken, durchaus nicht unter Druck. Äußerst erstaunlich angesichts der Tatsache, dass sie monatelang im Ungewissen mit anderen Gleichaltrigen auf engstem Raum leben und nichts als eine halbe Stunde Schule pro Tag haben! Fernsehen und Zeitung gibt es zwar, aber wenn man kein Griechisch kann, hilft das nicht viel, auch eine Bibliothek gibt es nicht. Sport, Kunst oder ähnliches – alles undenkbar und unmöglich: Absolut kein Platz dafür und Geld sowieso nicht. Einen Pakistaner gibt es, der zeichnet gut und wird gefördert – aber nur von den drei Lehrern. Gymnasiumsunterricht für ca. 50 Insassen findet tagsüber statt; Grundschule für ca. 50 Insassen ist abends, die 50 übrigen „Bildungsunfähigen“ arbeiten die Woche über und haben am Wochenende eine Art Grundbildung, Vorschule genannt. Ansonsten hat jeder pro Tag ein bis drei Stunden Auslauf auf dem Innenhof, der selbst zum Basketballspielen nicht groß genug ist, sagt Mathelehrer Ioannis.
  Anastasia und Ioannis präsentieren eine preisgekrönte, vielsprachige Webseite zum Thema Menschenrechte, die sie mit ihren Schützlingen im letzten Jahr erstellt haben. (Sehr schön! Nur, dass Knackis nirgendwo auf der Welt freien Zugang zum Internet haben...) Dann gibt Alan auf Englisch seine vierzigminütige Performance „The Insider“ über das Leben aus der Sicht eines Inhaftierten anhand von Zitaten aus der Weltliteratur. Ich bin der Mann am Laptop, der die dazugehörigen Bilder (Kollwitz, Rembrandt usw.) und Übersetzungen an die Wand wirft. Alan verwandelt sich in Brecht und Malvolio, Hamlet oder Jeanne d’Arc, er deklamiert und singt, flüstert und rezitiert wie immer mit größtem Enthusiasmus – die Jungs amüsieren sich und lauschen brav, auch wenn sie nicht viel verstehen, während die restlichen Besucher zumeist mit dem Schlaf kämpfen. Wir sitzen zu dreißigst in einer Zelle für maximal sechs – ein dem Thema durchaus angemessener Zustand. Hinterher quatschen wir noch, es werden Fotos gemacht und gemeinsam das Gebäck der Lehrerinnen genascht.
  Das Mittagessen im Knast ist dann aber plötzlich abgesagt, offiziell aus technischen Gründen. Aber ich erfahre von einem Angestellten, dass es derzeit in allen griechischen Gefängnissen Unruhen und Spannungen gibt, was Grund für die hohe Sicherheitsstufe ist, die uns eine Besichtigung des Knastes ebenso unmöglich macht, wie das besuchsweise Essen in der Knastkantine – in Erwartung eines neuen Gesetzes, das für viele eine Amnestie bedeuten könnte, werden die Gefangenen langsam ungeduldig, weil die Politiker der Regierungskoalition (aus drei Parteien) sich nicht einig sind und sich derzeit um ganz anderes kümmern (wir erinnern uns: gestern Mittag erst hat Griechenland den Staatsbankrott abgewendet, indem es sich mangels Alternative den für viele Griechen extrem existenzbedrohenden Knebelbedingungen der EU ergeben musste – und noch ist dadurch nichts geklärt, gelöst oder auch nur klar genug entschieden)… Wir verdanken diesen gefängnisinternen Spannungen immerhin, dass wir in einer modernen griechischen Garküche am weitläufigen Hafenkai mit Hausmannskost aus Volos versorgt werden – und anschließend noch von unseren Gastgebern in eine nahegelegene Eisdiele eingeladen werden, in der ich tatsächlich das wunderbare Kaimakis-Eis finde, das nach dem sommerlichen Mastix-Baumharz der Insel Chios schmeckt…  das gibt es nur in griechischen Gefilden.
  In der Stadt soll es heute schon mehrere Demonstrationen gegeben haben, aber natürlich haben wir davon nichts mitbekommen. Überhaupt erscheint mir hier angesichts der Lage alles unglaublich ruhig. (Nur einmal, gegen Abend, hörte ich auf der Uferhauptstraße einen Lautsprecherwagen vorbeifahren und irgendwelche aufgeregten Brüllereien verbreiten, aber niemand kümmerte sich darum.) Beim Abschied am Nachmittag informiert uns Anastasia, dass aller Wahrscheinlichkeit nach Busse und Flüge vom morgigen Streik nicht betroffen sein werden (er betrifft vor allem den öffentlichen Dienst der nationalen Institutionen). Ob ihre Bemerkung, dass heute eigentlich alle Schulen streikten, also auch die Gefängnisschulen, ernstgemeint ist, kann keiner von uns wirklich einschätzen. Dafür, dass hier allen das Wasser bis zum Hals steht, waren alle sehr ruhig und nett, eigentlich fast unglaublich. (Vielleicht ja auch einfach Schicksalsergebenheit? Ick weeß et nich.)

Die griechische Tragödie (2)


9. Februar, Sonne am Morgen: links vom Balkon die freundliche Hafenbucht von Volos von der man sagt, dass hier einst die Reise der Argonauten begann. Rechts schneebedeckte Berge über der weiß verschachtelten  Stadt:  Das ist der Pylion, der lokale Bergzug der Halbinsel im thessalischen Gebirge, in dessen Wäldern die Zentauren hausten (Anastasia sagt, wenn man lange genug sucht, kann man noch welche finden, sie sprechen aber nur Altgriechisch – ein Glück, dass ich das mal an der Uni gelernt hab).  Der für heute befürchtete viele Schnee ist ausgeblieben, stattdessen in den engen Straßen Seewind sowie hier und da zwischen den parkenden Autos Granatapfelspaliere mit trockenen oder geplatzten Früchten und überall Orangenbäume voller leuchtender Früchte. Apostolia meint, das seinen allerdings keine Orangen, sondern bittere Nefrangen (nie zuvor gehört, keine Ahnung, wie man das schreibt), eine ungenießbare Urform der Orangen, aus denen man aber Süßigkeiten machen kann. (Ich wills kaum glauben, aber es wird wohl stimmen.)
  Wir fahren in ein Gymnasium ein Stück die Stadt hinauf Richtung Berge. Eine dreistöckige Neubauschule umschließt dreiseitig den Schulhof, auf dem gerade eine Klasse in Wintersachen Gymnastik macht.  Im unbeheizten Deutschraum werden wir auf abgeranzten Kindermöbeln empfangen. Die lokale Deutschlehrerin, die wir in der Pause kennenlernen, hat als Grundschülerin in Lippstadt gelebt und später in Thessaloniki Deutsch studiert, sie sagt, hier lernen mindestens die Hälfte der Gymnasiasten Deutsch als zweite Fremdsprache, denn sie hoffen später Medizin oder Jura in Deutschland studieren zu können. Außerdem gilt Französisch als Mädchensprache und deutsch als männlich – deswegen sind die Jungs geschockt, wenn sie im Unterricht erfahren müssen, dass man auch im Deutschen lächerlich peinliche Laute wie „Ü“ oder „Ö“ erlernen muss. Die griechischen Lehrerinnen haben Kuchen für uns gebacken und Anastasia fragt mich spitz, ob ich mit ihrer „voluntarily work“ zufrieden sei.
  Abends kurzer Spaziergang zum nahen Kai, die Stadt sieht insgesamt frisch, modern und belebt aus: Im Dämmer schaukeln weiße Boote und Yachten, in der Ferne der weiten Bucht ein Wirtschaftshafen, aber nichts scheint überkandidelt, die saisonbedingt geschlossenen Seehotels machen einen soliden, freundlichen Eindruck. Zwar scheint es hier null Prozent Antike und hundert Prozent Gegenwart zu geben, auch die wenigen Basiliken auf den kleinen Plätzen sind neu, die Straßen sind engbebaut, die überall vorherrschende Farbe ist ein verwaschenes Weiß, aber alles wirkt belebt, entspannt und im rechten Maß, selbst der Feierabendstau auf der Uferhauptstraße. Im Abendwind fliegen still ein paar Krähen landeinwärts, eine Gruppe Möwen kreuzend.
  Abends in  der Kneipe hervorragendes Zitronenschwein, Wein in Kannen und Bouzoukimusik: Zwei junge Männer singen sich den Abend über die Seele aus dem Leib. Alessio kann mir auch nicht erklären, was mit den Italienern los ist; aber er sagt, er fühlt sich schuldig, dass seine Generation so tatenlos zusieht, wie sich nichts ändert. Er ist eigentlich Verfassungsrechtler, jetzt erforscht er soziale Verhältnisse in italienischen Gefängnissen. Die Griechen und Zyprioten sitzen heute alle am Ende der Tafel zusammen, um nicht mit uns diskutieren zu müssen: Gegen Mittag hat die griechische Regierung gegenüber der EU kapituliert und ist auf nahezu alle enorm restriktiven Forderungen eingegangen, um die nächsten Subventionen zu erhalten, die allein den sicheren Staatsbankrott abwenden können. Für die nächsten zwei Tage ist deswegen ein landesweiter Generalstreik angesagt – wenn wir Pech haben, fahren nicht mal die Busse nach Thessaloniki, geschweige denn, dass am Samstag unser Flugzeug abheben wird.

Die griechische Tragödie (1)


Ankunft in Thessaloniki, 8. Februar, früher Nachmittag. Der blitzend moderne Flughafen ist merkwürdig still. Während zeitgleich in Athen die europäischen Bosse um das ökonomische Schicksal des ägäischen Staates verhandeln, herrscht hier völlige Totenstille. Erst gestern lähmte ein Generalstreik das ganze Land und der wütende Mob der unteren Zehntausend verbrannte tanzend deutsche Fahnen auf der Straße der Hauptstadt. Hier hingegen ist jetzt alles unwirklich sauber und leer. Es ist nasskalt, knapp über Null schätze ich, gegen die knackige klare Kälte Berlins ist das hier unangenehm. Nebenan hat in einer Halle ein Kiosk geöffnet, die Sandwiches sind frisch, aber innen gefroren. Ein belegtes Baguette kostet knapp 5 Euro, eine einstündige lokale Busfahrt 80 Cent. Unterwegs sehen wir kaum Leute, aber  jede Menge leere Läden und neue Gebäude. Der Großteil von Thessaloniki besteht offenbar aus eng beieinanderstehenden Neubauten. Doch auch wo Licht brennt in den Läden - kein einziger Kunde zu sehen. An den vielen Ticketschaltern im riesigen Überland-Busbahnhof selbst zur Rush-Hour kaum Kunden. Alles ist beängstigend ruhig.
  Dann die Autobahn entlang der Küste nach Südwesten. Das Meer sehen wir nicht, alles ist diesig und in blendendes Grau gehüllt. Außerhalb der Stadt ein unbekanntes Griechenland: Weite, schneebedeckte Ebenen in dichtem Dunst. Auf der Autobahn so gut wie keine Autos, es gilt Mautpflicht. Die dreispurige Straße gehört stundenlang ganz uns, hin und wieder auf der Gegenseite ein anderer Bus, ansonsten kilometerweit grauweiße Weite und Leere. (Auf unserer Seite jedoch streckenweise leuchtende Straßenlaternen.) Ich rede mit Alan über eine Fahrt nach York und habe plötzlich das Gefühl, irgendwo durch Nordengland zu fahren. Auch die wenigen Bäume im Dunst an den Straßenrändern sind blattlose Laubbäume, kaum Pinien. Vielleicht verschwindet die mediterrane Pflanzenwelt auch einfach unter dem Schnee und der macht die Mitte der griechischen Provinz zur ganz gewöhnlichen mitteleuropäischen. Linkerhand im letzten Abenddämmer eine alte Burg auf einem Doppelhügel, umgeben von Nadelbäumen, es wird bergig und das könnte jetzt auch Thüringen sein. Alan sagt, wir kämen in die Nähe des Olymps. Die Bordanzeige des Busses meldet 4 Grad plus. Dann wird es rasch dunkel und wir sehen nur hin und wieder die Streulichter der Orte und Städte, die wir passieren.
  Als wir in Volos ankommen, ist es dunkel: 6 Grad, Nieselregen. Später, in der neonhellen gekachelten Innenstadtpinte, trinken wir in großer Runde den ortsüblichen Anisschnaps namens Tsipouro aus kleinen Fläschchen und essen den Abend über zig kleine Gänge aus tausenderlei Meeresfrüchten und lokalen Köstlichkeiten. Neben den Griechen sind auch die Leute von Zypern gekommen, die Italiener sind da (Cristina, wiewohl Italienerin,  gilt als Deutsche, weil sie zu mir gehört) und die Katalanen kommen zu viert. Als es allmählich lauter wird an der langen Tafel, sagt der gute alte Englisch-for-you-Alan: „Martin, ich fürchte, wir zwei sind die einzigen Nordeuropäer. Wir sind die Nordis, die anderen die Südis.“ Haha, das stimmt wohl - und fühlt sich ganz gut an. Im Fernsehen über dem Tisch besiegt die Basketballmannschaft von Olympiakos knapp das Türkenteam von Efes Pilsener. Anastasia aus Volos, die neben mir sitzt, meint irgendwann, nachdem der Smalltalk über die Familie beendet ist, in Griechenland verbrennten sie jetzt deutsche Fahnen, aber in Deutschland brächten die Nazis immer noch Fremde um. Ich solle entscheiden, was schlimmer wäre. Tja. Themenwechsel zum Wetter, oder?
  Später am Abend beginnen die alten Männer am Nachbartisch zu Akkordeon und Gitarre lauthals mehrstimmige griechische Volkslieder zu singen. Wer will, stimmt ein, die andern quatschen und lachen weiter. Der Wirt und die Köchin singen während der Arbeit mit. Quittungen werden in jeder gewünschten Höhe ausgestellt.