Sonntag, 30. September 2012

Tellkamps TURM


Am 3. und 4. Oktober wurde im deutschen Fernsehen eine zweiteilige Verfilmung von Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" erstausgestrahlt. Der erste Teil war grandios umgesetzt, im zweiten ergaben die zusammengeschusterten Versatzstücke der komplexen Handlung dann leider kein organisches Ganzes mehr. Es heißt aber, der Autor habe beim ersten Ansehen dieses Streifens geweint. Man kann über den Autor natürlich unterschiedlicher Meinung sein. Mir persönlich ist die Person Tellkamp zumindest deshalb suspekt, weil er über sich, einen freiwilligen NVA-Unteroffizier und Panzerkommandanten, merkwürdige (bis unglaubwürdige?) Widerstandslegenden aus den heißen Dresdner Oktobertagen von 1989 verbreitet.
  Über seinen opernhaften literarischen Stil wurde in den letzten Jahren viel gemeckert (vor allem von Autoren und Kritikern, die im Gegensatz zu Tellkamp 2008 den deutschen Buchpreis NICHT bekamen). Mich erinnert dieses Schlaumeiergerede von wegen "es hätten auch 300 Seiten weniger sein können" aber vor allem an eine Szene aus dem legendären Mozartfilm "Amadeus": Als Mozart dem griesgrämigen österreichischen Kaiser eine seiner neuen Kompositionen vorspielen muss und zu virtouser Höchstform aufläuft, anschließend auf die Frage, wie es Majestät denn gefallen habe, jedoch die knappe Antwort bekommt: "Zu viele Noten, Mozart, zu viele Noten..."

An so genannter "Wendeliteratur" habe ich (aus persönlicher "Betroffenheit") so gut wie alles gelesen, was es auf dem Buchmarkt gibt, und ich finde nach wie vor, dass Tellkamps "Turm" eines des gelungensten und wichtigsten deutschen Bücher zu diesem Thema, wie der letzten zwanzig Jahre überhaupt, ist. Deswegen möchte ich auf meine Gedanken zu diesem Buch verweisen, die ich bei Erscheinen 2008 in verschiedenen Veröffentlichungen darlegte: HIER ein Text, der das Buch ausführlich vorstellt und bewertet.

Letztes Jahr veröffentlichte ich HIER auch eine Besprechung von Eugen Ruges Roman "In Zeiten abnehmenden Lichts" - der ebenfalls den deutschen Buchpreis gewann. Und den Gegner und Kritiker Tellkamps für den "besseren Wenderoman" halten (vor allem, wenn sie der DDR weniger kritisch gegenüberstehen und ansonsten lieber Krimis als, sagen wir, Proust lesen)! Ich finde ehrlich gesagt beide Bücher hervorragend und absolut lesenswert, wobei Tellkamp künstlerisch verwegener und verspielter schreibt (was ich mutig und hochinteressant finde), während Ruge ein großartiges Buch mit nahezu perfekter Dramaturgie in allersolidester Erzählkunst liefert. (Beide Romane haben interessanter Weise ihre deutlichsten Schwächen in der Psychologie der Hauptfiguren, die jeweils autobiografisch angelegt sind. Hier hat offensichtlich der Wunsch sich vor Selbstentblößung zu schützen in beiden Fällen auffällige Ungereimheiten hervorgebracht.) Eine Verfilmung von Tellkamps bewusstseinsströmendem Tausend-Seiten-Epos stellt insofern die größere künstlerische Herausforderung dar - während Ruges stringent erzählte Geschichte einer randberliner Funktionäresfamilie im Epochenumbruch gewissermaßen ganz von selbst einen Film erzeugt, war Tellkamps experimentell erzähltes Epos von den Dresdener Bildungsbürgern in der sozialistisch vor sich hinbröckelnden Villenenklave des Weißen Hirschs garantiert kein einfacher Stoff für den Bildschirm. Insofern muss man anerkennen, was Regisseur Christian Schwochow da geleistet hat. Die Auseinandersetzung damit lohnt sich in jedem Fall.

Samstag, 15. September 2012

Das Imperium der Kreativität

Andreas Reckwitz' kluges Buch über die Rundum-Ästhetisierung unserer Gesellschaft
 
„Sei kreativ!“ heißt der unumgängliche Imperativ unserer Zeit. Vom Kindergarten bis zum Altersheim: Kein Einkaufszentrum ohne Mitmachbühne; keine Mediekampagne ohne Einsendemöglichkeit für gestaltungswütige Interaktive; kein Waldspaziergang ohne kreativ gestaltete Holz- oder Steinblöcke am Wegesrand. Jeder darf inzwischen nicht nur Künstler sein, er soll es, will es und muss es. Nicht nur im Hinblick auf die Schaffung von Kunstwerken: Ohne ein Mindestmaß an Kreativität gibt’s keinen Job und keine Anerkennung mehr; unser ganzes Leben soll mittlerweile eine von uns hochkreativ gestaltete, einzigartige Selbstschöpfung sein. Gelingendes Leben heißt Kreativität, wie uns die flüsternden Stimmen aus Beurteilungsbögen, Werbetrailern und Bestsellerlisten unermüdlich bestätigen. Und ausgerechnet die weltferne, unsolide und bis vor wenigen Jahrzehnten verfemte Künstlerboheme mit ihren surrealen Einfällen und sprunghaften Stimmungen liefert offenbar die Matrix, den Prototyp heutigen Handelns. Querdenkertum als neue Gesellschaftsnorm?

Kreativitätsdispositiv nennt das, in Anlehnung an die Foucaultsche Begrifflichkeiten für gesellschaftswirksame Diskursfelder, der Kultursoziologe Andreas Reckwitz. Der Autor, Professor der Kulturwissenschaften in Frankfurt (der alten Universitätsstadt bei Berlin), geht in seinem neuesten Suhrkamp-Band „Die Erfindung der Kreativität – Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung“ einem epochemachenden Prozess auf den Grund: Der Entstehung eines globalen postmodernen Kapitalismus‘ aus dem Geist der Kreativität. Reckwitz betrachtet das bislang zu wenig hinterfragte Phänomen gründlich und in allen Aspekten - sein Buch gleicht einer Rundumschau zum aktuellen Erkenntnisstand der Kreativität: Text wie Fußnoten und Apparat liefen die Bandbreite der wichtigsten Literatur aus Soziologie, Politikwissenschaft und Kulturtheorie der letzten Jahrzehnte zum Thema und binden sie verständlich ein in den ruhigen, gut strukturierten Fluss der Überlegungen.

In acht - im sachlichen Wissenschaftsduktus geschriebenen - Kapiteln, die durch ihre hohe Informationsdichte und die Verknüpfung verschiedenster Ansätze und Diskurse überzeugen, skizziert Reckwitz eine Diagnose unserer Epoche, die in ihren Einzelheiten längst bekannt, in der Gesamtschau jedoch verblüffend erscheint: Weniger der politische Epochenwandel von 1989 als vielmehr der weltweite Wechsel von der funktional-naturwissenschaftlichen Orientierung gegenwärtiger Gesellschaften seit den 1960er Jahren hin zur durchkulturalisierten Kreativgesellschaft von heute scheint der entscheidende globale Paradigmenwechsel zu sein, der das Schicksal unserer gesellschaftliche Realität entscheidend prägt: Der Schritt von der kognitiven zur ästhetischen Gesellschaftsnorm.

Um dies zu veranschaulichen, beschreibt und deutet Reckwitz entscheidende Phänomene der letzten einhundert Jahre wie etwa die allmähliche Ablösung des Kunstwerks durch das Kunstereignis (Performativität, Festivalisierung), das soziale Regime des immerfort Neuen, die kulturelle Ökonomie unserer Starsysteme, die Ästhetisierung des Ökonomischen (Stichwort: Design) oder die Etablierung von Werbung und creative industries als neue ökonomische Leitbranchen. Die Kulturalisierung der Stadt (als creative city), die Ästhetisierung des Sozialen und die Emotionalisierung von Wirtschaft und Politik werden mit eigenen Kapiteln so umrissen, dass man sowohl die Prozesse selbst als auch verschiedenste wissenschaftliche Positionen dazu erfassen und sich ein erstes Bild vom Ausmaß des Wandels machen kann, auf den Reckwitz mit diesem Buch fundiert aufmerksam macht. 

Erstaunlich, wie von Reckwitz überzeugend herausarbeitet wird, dass nicht etwa die Ökonomie das Feld der Kreativität unterwandert und durchkommerzialisiert hat, sondern dass umgekehrt die Kreativität längst zum rettenden Motor und zum charakteristischen Wesen unserer gegenwärtigen globalen Ökonomie geworden ist.  Dieses Buch sei deshalb keineswegs nur Kultursoziologen und Berufskreativen ans Herz gelegt, sondern allen, die verstehen möchten, was unsere gegenwärtige Gesellschaft antreibt und wohin sie treibt. „Die Erfindung der Kreativität“ ist ein wesentlicher theoretischer Beitrag zum Verständnis unserer Epoche: Wir leben offenbar längst im Ästhetischen Kapitalismus. Wenn man wissen möchte, was das heißt, kann man bei Reckwitz erstaunlich viel lernen.       

Andreas Reckwitz: „Die Erfindung der Kreativität – Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung“
suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Berlin 2012