Montag, 30. Januar 2012

33 Jahre Poesie


Im  März 1979 trat ein junger, strahlender Dichter ans Licht der wenig beeindruckten Öffentlichkeit.
Das kleine Gedicht, das man damals von ihm druckte, ging so:
...
                Vorfrühling

                Noch sind die Bäume kahl.
                Noch weht es kalt manchmal.
                Der Himmel strahlt in Sommerbläue,
                auf dass die Sonne sich nicht scheue
                zu baden in dem Himmelsmeer.

                An Winter aber
                denkt keiner mehr.

Damals war dieses Gedicht allerdings schon sehr alt (mehr als ein Jahr) und der Dichter bereits 14 Jahre. Sein nächstes, inhaltlich wie formal reiferes Gedicht mit dem Titel „Gewitter“ (die spannende Schilderung eines Sommergewitters in reizvoller Landschaft als Allegorie auf einen Streit mit der Geliebten mitsamt gesonderter Coda namens „Nach dem Sturm“) wurde in den folgenden Jahren unversehens zum landesweit vielfach aufgeführten musikalischen (sic) Underground-Erfolg. Für einschlägige Poetenseminare und staatliche Dichterschulen war der junge Freigeist dadurch verdorben. Nicht die poetischen Verlage, sondern ein absurd rühriger Inlandsgeheimdienst nahm ihn (bis zu dessen jähem Ende) darum gut drei Jahre nach Erscheinen obigen (subversiven?) Textes unter intensive Beobachtung. Im Jahr 1989 veröffentlichte der Dichter unter Mühen seine erste Erzählung, im Jahre 1999 unter kaum geringeren Mühen seinen ersten Roman, 2009 ging er mit einem zeitgeschichtlichen Essayband auf Tour. Seine fortwährend sprudelnden Gedichte jedoch wurden von jener ersten Veröffentlichung (s.o.) an vielfältig in Untergrundblättern, Magazinen und Anthologien gedruckt, im Radio oder Fernsehen verwendet, von Sängern vertont oder in Schulaufsätzen besprochen, schließlich auch in andere Sprachen übersetzt und 2005 schließlich in einem zweisprachigen Band auf der anderen Seite des Globus veröffentlicht (was in drei größeren Lesereisen durch den riesigen Äquatorarchipel Indonesien mündete)...
  Im März dieses Jahres erscheint nun erstmals eine deutsche Auswahl seiner Gedichte. 33 Jahre Poesie, ein spätes Debüt. Der junge, strahlende Dichter dankt allen, die mit ihm so geduldig waren!

Samstag, 28. Januar 2012

Bleiben Sie dran!!

Wenn spätere Generationen über den Zeitgeist unserer gegenwärtigen Epoche nachdenken werden ( - warum ist uns das eigentlich so wichtig? Immerzu müssen//wollen wir auf uns selbst mit "den Augen der Geschichte" schauen... seltsam... vielleicht sind wir denen später völlig egal?); falls also spätere Generation eventuell über den Zeitgeist unserer gegenwärtigen Epoche nachdenken würden, würde eines sicherlich zum zentralen Symbol unserer hysterischen Mediengesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts werden: Das Nachrichtenlaufband am unteren Rand unseres Lebens. Die "breaking news", die neueste Twitter-Nachricht.
 
Wir verfolgen die aktuellen Katastrophen dieser großen weiten Welt von Erdbeben in Haiti bis Schiffsuntergang an der italienischen Lilieninsel live und in Farbe - als zu unserem Alltag gehörige Dauerserien, wie unsere Eltern noch "Dallas" und "Kojak - Einsatz in Manhattan". (Sie haben zwei neue Nachrichten!) Mauerfall, 11. September, Ölleck im Golf von Mexiko. Nie werde ich vergessen, wie im letzten Frühjahr die netten Gute-Laune-Moderatoren vom privaten Frühstücksfernsehen eines Morgen mit einer "Live-Schalte" überrascht wurden und zwischen dem werbegesponserten Morning Quiz (Gewinnen Sie 500,- Euro JETZT!) und dem wöchentlichen Imbissbuden-Report (Vergeben Sie bis zu 5 Sternen!) mal eben kurz das Eintreffen eines Tsunamis auf Japans Südküste inlusive der kompletten Überflutung einiger verschlafener Dörfer kommentierten, die per Hubschrauberkamera auf den Bildschirm übertragen wurde. (Ah, Moment, Telefon... Sorry, bin gleich wieder da.) - Täglich überprüfen wir mehrmals, was es Neues gibt - als hätten wir irgendeine Chance, etwas zu verpassen. Was bringt uns dazu, uns so zu verhalten? Globalisierung ist offenbar nicht nur ein wirtschaftlicher Fakt, auch unser innerstes ICH ist existenziell globalisiert - die breaking news aus Kalifornien gehen uns innerlich näher als Schicksal unseres Hausnachbarn (wie heißt der noch - der immer seinen Müll vor der Tür stehen lässt). Wir haben keine Zeit, wir müssen Nachrichten gucken, E-Mails lesen, Blogleser bei der Stange halten und Tweets absetzen... wir sind mit der ganzen Welt vernetzt! Wie dem Baum ständig neue Blätter wachsen, wachsen uns eben Nachrichten. (So sind wir Menschen, unser Geist will beschäftigt sein - und Kreuzworträtsel sind auf die Dauer nur bedingt spannend.) Nur, dass es bei uns mit jedem Jahr schneller geschieht... (In Ihrer Abwesenheit erreichten Sie vier neue Nachrichten!) Kennen Sie auch diese vor sich hin brütenden Zeitgenossen, die auf dem leeren Bürgersteig, im Bus, in der Warteschlange einsam ins Leere starren und lauthals rufen: "Moment kurz, da klopft jemand auf der anderen Leitung."?
 

Bei mir begann es exakt im Herbst 1989, dass ich plötzlich nicht mehr aufhören konnte, die Nachrichten zu verfolgen. Täglich geschahen (von Leipzig aus gesehen) sensationell neue Dinge, die man sich nie hätte vorstellen können und die das eigene Leben existenziell veränderten. Gute Gründe, am Radio zu bleiben und sich einen Fernseher zu kaufen! Seitdem hoffe ich stündlich, dass es zu weiteren Ereignissen dieser Art kommt, die mein eigenes Leben so erfreulich und fundamental umformen. Immernoch schalte ich begierig mehrmals am Tage die Nachrichten ein. Leider umsonst in den letzten 22 Jahren. (Eilig: Sie haben einen neuen Kommentar von traumtänzerin79!) Ja klar, lachen Sie nur. Ich giere nach den echten "breaking news" ebenso wie Sie. Nur habe ich einen Grund: Die Erfahrung, dass es manchmal wirklich welche geben kann. Doch unsere Hoffnung auf mehr (d.h. unser "Bedürfnis nach umfassender Information") gibt einem gobalen Filzgeflecht aus ausgebufften Aufmerksamkeitsmaklern die leichte Chance, uns bis tief in unser Hirn hinein (bis in den Schlaf?) mit "breaking news" zu foppen, unsere geistigen Energien zu fesseln und zu lenken. Ist Abschalten überhaupt möglich?  

Natürlich musste (?) auch ich mich "aus beruflichen Gründen//wegen der Erreichbarkeit" aufrüsten: AB, Handy, E-Mail-Account etc. - jeder darf selbst ergänzen... Um den Eindruck der Technikfeindlichkeit zu vermeiden: Besonders E-Mail und google liebe ich über alles - die wichtigsten Erfindungen seit dem Buchdruck! Wichtiger als das Auto. E-Mail erlaubt uns eine weltweite Korrespondenz ohne den Papierverbrauch des Briefschreibens - und vor allem ohne den Lärm und die störende Zeitfresserei des Telefonierens! Schnell, still, verlässlich schriftlich - und dann zu erledigen, wann ich will - ein Traum!! (Ihr Account musste wegen Überfüllung gelöscht werden. Bitte wenden Sie sich an den Administrator.) Und google ist der Marktplatz der Wissensangebote, der in den alltäglichen Fällen des Nichtwissens - also vermutlich 90 % - den zeitraubenden Gang in die Bibliotheken u.ä. erspart! Ein Traum, dass ich das noch erleben darf, der ich zu Beginn meiner Informations-Laufbahn nicht einmal ein Telefon haben durfte... Aber wie auf jedem echten Flohmarkt gibt es auch im Virtuellen jede Menge Bauernfänger & Halbseidene, die zu erkennen zunehmend aufwändiger wird... (Achtung: Sensationsentscheidung im Bundestag. In Kürze mehr!!)


  "Dass ich niemals eine denkwürdige Nachricht aus einer Zeitung schöpfte, dessen bin ich ganz sicher.  Wenn wir lesen, dass ein Mensch beraubt, ermordet oder zufällig getötet wurde, ein Haus abbrannte, ein Schiff unterging und ein Dampfer in die Luft flog, eine Kuh von der Eisenbahn überfahren und ein wütender Hund getötet wurde oder dass ein Schwarm Heuschrecken im Winter angetroffen wurde, so brauchen wir das niemals wieder zu lesen.  Wenn Dir das Gesetz bekannt ist, was brauchst du dich um die Myriaden von Fällen und Anwendungen zu kümmern? Dem Philosophen sind alle Neuigkeiten Geschwätz, und die es herausgeben und lesen, alte Teetanten.“ sagt mein kluger, alter Herzensfreund Henry David Thoreau. Doch wie wird es weitergehen? Wie wird es ausgehen mit uns und der Welt?? Behält Thoreau Recht?? - Bleiben Sie dran!!!

Samstag, 21. Januar 2012

Eine wahre Geschichte


Am 25. März 2003 um vierzehn Uhr fünfundzwanzig wurde Polizeileutnant Ulusalu aus den Bergdorf Wawotobi im Südosten der indonesischen Insel Sulawesi Zeuge einer rätselhaften Himmelserscheinung. Während er auf einen stählernen Aussichtsturm stand, um über den ausdehnten, schwer zugänglichen Wäldern dieser Gegend nach Waldbränden Ausschau zu halten wie es seine Aufgabe war, entdeckte er in großer Höhe und einiger Entfernung einen riesigen brennenden Gegenstand, der aus dem Weltall kommend mit einem seltsam vibrierenden Pfeifen waagerecht durch den wolkenlos gleißenden Himmel herabstürzte. Dieser Gegenstand ließ sich mit nichts vergleichen, was Ulusalu jemals gesehen hatte. Weder erinnerte ihn das, was er sah, an ein Flugzeug, noch an eine Rakete, sei es zu militärischen oder wissenschaftlichen Zwecke. Ulusalu interessierte sich seit seiner Ausbildungszeit in den frühen Siebzigern an der Polizeischule von Makassar sowohl für Militärisches, als auch für Weltraumforschung, deshalb war er sich absolut sicher. Was er sah, erinnerte ihn exakt an - einen monumentalen brennenden Bleistift. Das herabstürzende Objekt hatte nach seinen Schätzungen ein Ausmaß von dreißig bis fünfzig Metern. Es explodierte in der gesamten Zeit seiner Beobachtung nicht, sondern brannte nur lichterloh, und das ohrenbetäubende Pfeifen, das den Absturz begleitete, mußte seiner Meinung nach im Umkreis von -zig Kilometern zu hören sein. Diese Angaben wurden später von verschiedenen Seiten bestätigt.   
  Nach etwa vier Minuten freien Falls stürzte das Objekt mit einem gigantischen Knall ins ozeanische Grün der Urwälder von Sulawesi. Ulusalu schätze, dass sich die Absturzstelle etwa 50 Kilometer von seinem Aussichtsturm entfernt befand, und zwar in Richtung des Gunung Wani, wo es dichte undurchdringliche, von steilen Schluchten durchzogene Wälder voller Tapirpfade und nicht eine einzige Straße gibt. Das Krachen des einschlagenden Riesenobjektes war noch in 60 Kilometer Entfernung zu hören, dies gaben später auch verschiedene andere Zeugen zu Protokoll. Ulusalu schrieb keinen Bericht, denn er war wie viele Polizisten dieser Region Analphabet. Seine Aussagen kamen rund zehn Tage später bei einer Befragung durch seine Vorgesetzten zustande, bei der er bereitwillig Auskunft gab, es existiert darüber ein offizielles, den oberen Lokalbehörden zugängliches Protokoll. Daraufhin wurde in Zusammenarbeit der verschiedenen zuständigen Behörden eine breit angelegte Suchaktion nach dem Objekt organisiert, blieb aber trotz Einsatz aller technisch verfügbaren Hilfsmittel ergebnislos. Polizeileutnant Ulusalu gilt seit dem Wochenende nach seiner Befragung als verschollen, weder seine Frau, noch seine weitläufige Verwandtschaft in Wawotobi können irgendwelche sachdienlichen Hinweise zu seinem Verbleib geben. Angeblich sei er morgens wie immer mit seinem Moped zum Polizeistützpunkt in Richtung Kolaka gefahren, dort aber nie angekommen. Ulusalus ältester Sohn Tombe gilt seither ebenfalls als vermisst, nachdem er sich in Ermangelung gleichgesinnter Gefährten alleine auf die Suche nach seinem verschollenen Vater in die undurchdringlichen Wälder um den Gungung Wani begeben hat. 
  Das Moped Ulusalus wurde mehrere Wochen später zufällig von illegalen Holzfällern unversehrt und weit ab jeglicher Straßen mitten im Urwald der Region Munai gefunden. Es war noch funktionstüchtig und der Tank war halbvoll, deswegen meldeten sie den Fund nicht und behielten das Fahrzeug.   

Montag, 16. Januar 2012

It's the economy (that kills us), stupid ...

"Der Neoliberalismus ist ein Phänomen der großen internationalen Konzerne. Die List ist, dass sie den freien Markt propagieren, gleichzeitig jedoch diesen Markt beherrschen, so dass es keinen freien Markt gibt. Die großen Konzerne haben eine starke Verbindung zur Politik, was ja ganz marktwidrig ist. Das ist die Lüge."

Colin Crouch  (Prof. of Governance and Public Management, University of Warwick, UK)

Samstag, 14. Januar 2012

Im Anfang war der Traum oder: Die Grammatik der Bakterien

Dass ausgerechnet die Sprache es sei, die den Menschen allein zum Mensch werden ließe, ist eine der seltsamsten Behauptungen, die mir je untergekommen sind. Auch wenn ich diesen Unfug umso öfter zu hören bekomme, je höher das Bedeutungsniveau zu sein meint, mit dem jemand darüber zu sprechen glaubt, was den Menschen zum Menschen mache. Jeder harmlose Taubstumme wäre dieser frommen Annahme zufolge zur ewigen Existenz als bewusstlose Bestie verdammt! Und ausgerechnet jene Seelenzustände, die mir die liebsten sind, jedes filigran glosende Dämmern an den Rändern des Schlafes, jedes ozeanisch wortlose Treiben zwischen Schatten und tanzenden Sonnenflecken im unendlich freundlichen Vorraum der präzis-kühlen Wortwelt, wären verachtenswert unmenschliche Regungen, die mit meinem Dasein als hoch entwickeltes, schätzenswertes Wesen von Geist und Verstand nichts oder nur verachtenswert Niederes zu tun hätten. Selbstverständlich gibt es ein Bewusstsein auch ohne Sprache. Und meine Welt, verehrter Herr Wittgenstein, und mein Wissen von ihr, sind bedeutend größer und weiter als jede Sprache. Mein halbes Leben verbringe ich damit, Worte zu finden für alles, was ich sehe, empfinde, erfahre und weiß. Die Überzeugung, dass eine parlamentarische Durchführungsbestimmung einen höheren Grad an Bewusstsein und Kultur aufweisen soll als das Lied einer Amsel, ist eine erstaunliche These.
  Dass beispielsweise der postmoderne Glaskasten des Berliner Hauptbahnhofes höherwertiger sei als ein afrikanischer Termitenbau oder die fröhlich im Wind schaukelnde Hütte eines Webervogels entspricht eher der unreflektierten Weltsicht eines Dreijährigen, der voraussetzt, dass die ganze Welt nur um seinetwillen geschaffen sei. Erstaunlich, an was für Theorien sich die Leute sich klammern müssen, um sich als etwas Besonderes, Höheres fühlen zu können und sich aus der Welt tierischer Existenz, der wir alle unzweifelhaft zu neunundneunzig Prozent angehören, zumindest mit begrifflichem Stacheldraht irgendwie zu separieren. Und das eine Prozent, das uns zu einer ganz eigenen Tierart, also zu sich für etwas ganz Anderes, quasi Außerweltliches haltende Menschen macht, ist ganz gewiss nicht die Fähigkeit zum komplexen Informationsaustausch durch Schallwellen oder grafische Zeichen (denn das können Termiten mit Duftbotschaften und Webervögeln mit einem Tanz oder ihrer Federfärbung auch und teilweise bedeutend effektiver und erfolgreicher).

  Wozu also dieser wortreiche existenzielle Rassismus der so genannten Geisteswissenschaften? Was kann schlecht daran sein, gleichberechtigt und untrennbar von all den anderen wunderbaren Arten jener organischen Welt des Lebens anzugehören, in der die Fähigkeiten, mit dem Mund Laute mit artgerechtem Informationsgehalt und angemessener Frequenz zu formen oder mit der Hand Hauptbahnhöfe zu konstruieren, eben nur einen Weg unter vielen anderen, ebenso guten und erstaunlichen, sind. Das vermeintlich königliche Ende der Nahrungskette waren vom Anbeginn des Lebens an die Bakterien. Und sie werden es auch am Ende sein, die das letzte Wort haben, wenn auch in einer anderen Grammatik als der, die uns zu so etwas vermeintlich überirdisch Einmaligem macht.  

Dienstag, 10. Januar 2012

die zukunft (gobalgedicht)


complaint conference
(the future of poetry)


silence please
the poets are talking
the poets are talking inside
the poets are talking inside the building
please silence they are talking about the future of poetry

silence please
the poets are worried
the poets are worried a lot
the poets are worried about poetry
the poets are worried about the future of poetry
but the truth is they are worried about the future of the poets

outside the building no silence at all
traffic runs through the streets with a roaring
a taxi driver is buying flowers for his girl
an old woman is saying a prayer
a grey bird is praising the sun
and the young man at the sidewalk
is loudly singing his favoured pop song

may be I am not a poet
but I am not worried 
about the future
of poetry

Neue deutsche Träume

Folgende persönliche Bekenntnisse einer Leserin konnte man jüngst auf der Leserseite der ZEIT unter dem Titel "Neujahrsträume" lesen: "Ich träume von einer Welt, in der die Menschen das Licht ausschalten, wenn sie einen Raum für länger als einen Augenblick verlassen, in der sie alle Geräte mit Stand-by-Funktion ganz ausschalten, wenn diese nicht in Gebrauch sind (am besten einfach mit einer Steckdosenleiste mit Kippschalter), in der sie die Heizung ausmachen, wenn die Fenster offen sind." Der Text geht noch weiter. Es wird im gleichen Ton unter anderem davon geträumt, das "überhaupt keine" unwürdigen tierischen Produkte mehr gekauft werden sollen und "nur noch fair gehandelte Kleidung"; und dass die Deutsche Bahn bitte keine Schokoladentäfelchen mehr als Entschuldigung für mehr als sieben Minuten Verspätung verteilen solle. Zum Schluß zeigt uns die Verfasserin mit bittersüßem Witz, dass sie sich der Unerfüllbarkeit ihrer Träume bewusst ist, indem sie schreibt: "Und ich träume davon, fliegen zu können." Ihre Name (Gesche Hübner) lässt vermuten, dass es sich nicht um einen Teenager handelt, aber wer weiß... Das Problem: Dieser Text, das lässt sich dem Veröffentlichungskontext entnehmen, ist bis auf den letzten Satz nicht ironisch gemeint. Und er wurde von der Zeitungsredaktion eines Intelligenzlerblattes unter -zig anderen Möglichkeiten als Neujahrsgruß der Leser an die Welt ausgewählt und an zentraler Stelle veröffentlicht. Es gibt Gesche Hübner vermutlich tatsächlich. Und es gibt diese Zeitungsredaktion. Es gibt diese Wunschträume! - - Warum nur blicke ich verängstigt und ungetröstet in dieses verregnete junge Jahr vor meinem ungeputzen deutschen Hauptstadtfenster?

Sonntag, 8. Januar 2012

entertainer

                                   Ex factis, non ex dictis amici pensandi.
                                                                (Titus Livius)

er lacht
über das
was du liebst
nun überlegst du                       
ob du mitlachst
oder ihn tötest

mitlachen wäre
der übliche weg
voltaire wollte mehr:
dass wir lernen die freien
worte zu ehren

wenn alle alles sagen dürfen
sollen sind alle worte ein spiel
gilt was einer tut nicht sein wort
sind worte nicht von dieser welt
sind worte wie teilchen und welle
wie dort und hier zugleich

hier hört der spaß auf und
die wissenschaft übernimmt
naturgemäß das kommando
     
an die arbeit kollegen
wieviel gramm wiegt die liebe
wieviel gramm wiegt ein mord
wieviel gramm wiegt ein lachen
wieviel gramm wiegt ein wort

Die Herren der Straße


Franz Kafka auf die Frage, was er von der russischen Revolution halte:

"Diese Leute sind so selbstbewusst und lustig. Sie sind Herren der Straße und halten sich für die Herren der Welt. Sie irren sich. (…) Je weiter sich das Hochwasser verbreitet, desto seichter und trüber wird das Wasser. Die Revolution verdunstet und übrig bleibt der Schlamm einer neuen Bürokratie.“

(Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Erinnerungen und Aufzeichnungen. Frankfurt am Main 1951, S.71)