DAS KONVOLUT – zwei befreundete Oberseminaristen bei
Lockerungsübungen auf dem Abenteuerspielplatz neomarxistischer
Theorieerzeugung
"Wir haben das Ende des Fortschritts im Westen noch persönlich erlebt. Das war vor etwa zwanzig Jahren…" (Dath & Kirchner, DER IMPLEX)
Der Grundansatz dieses Papierziegels ist durchaus originell:
Ausgehend von einem Begriff des französischen Autors Paul Valéry
bezeichnet „der Implex“ bei Kirchner und Dath die einer bestimmten
gesellschaftlichen Situation stets auch innewohnenden potenziellen
Möglichkeiten und Handlungsalternativen – damit verabschieden sie sich
immerhin vom althegelianisch-marxistischen Denkmuster der „Gerichtetheit
von Geschichte“: Sozialer Fortschritt als Frage der
Handlungswahl der gesellschaftlichen Akteure, nicht der äußeren
Vorgaben. Neues linkes Nach- und Weiterdenken wird also angekündigt, das
macht neugierig und stimmt den aufgeschlossenen Leser hoffnungsfroh.
Dath und Kirchner, seit ihren westdeutschen Schultagen in den Achtzigern
einander schreibend wie im öffentlichen linkspolitischen Denken
verbunden, wollen erkunden „ob so etwas wie sozialer Fortschritt gedacht
und, wichtiger, gemacht werden kann“. In der Tat könnte es lohnend
sein, altbekannte linke Denkpositionen auf ihre Verwendbarkeit für
aktuelle kapitalismuskritische Handlungsweisen zu überprüfen und sie für
unsere Zeit und Zukunft weiterzudenken.
Doch leider, leider wartet auf den fast 900 Seiten vor allem schwer
lesbare, bedeutungsheischende Oberseminaristenprosa mit
Poptheorieglasierung - und wenig Erkenntniszuwachs. Kurze Kostprobe zur
Einstimmung: „Der zu explizierende Implex geschlagener partikularer
Emanzipationsbewegungen ist nichts anderes als die praktische Option
antipartikularer Solidarität.“ (Schlusssatz des Abschnitts „Sieg und
Niederlage der Emanzipation“ S. 191). Weniger mit einem systematischen
Durchdenken von Geschichte und Idee des sozialen Fortschritts als
vielmehr entlang bestimmter Schlüsselbegriffen (Arbeit, Frauen,
Natur, Gemeinwesen, Revolution, Krieg etc. pp.) wird - weitgehend
eurozentrisch - über Geschichte und Gegenwart assoziiert, zitiert und
theoretisch fabuliert was das Papier hergibt, wobei starke Passagen ein
unüberschaubares Konglomerat mit Belanglosem und Halbgarem bilden.
Die inhaltlich durchaus anregende Überfülle an Angedachtem kann und
muss hier nicht wiedergegeben werden. Bemerkenswert jedoch
beispielsweise: Im Kapitel „Hexis als friedliche Gewalt“ verabschieden
sich die Autoren quasi nebenbei vom akademisch hochpopulären Denkmuster
der „sozialen Konstruktion“ (z.B. von Herrschaftsstrukturen,
Geschlechterrollen etc.) und erklären eben diesen menschlichen Hang zum
sozialen Konstruieren als eingeborene humane Eigenschaft, mithin
naturgegeben, und die „Debatte Nature versus Nurture“ (Natur gegen
Erziehung) zu einem „ermüdenden Scheingefecht“. In der Gesamtschau wirkt
das Buch wie eine aus dem Ruder gelaufene und nicht zu Ende gebrachte
wissenschaftliche Pflichtarbeit, deren Lücken und lose Enden man
(entlang der multifunktional einsetzbaren Implex-Idee) mit einer
Vielfalt von disparaten Textsträngen und unterhaltsamen Denkexkursen
verfüllt hat, um dann mit einem bestimmten Begriffsvolumen den Eindruck
von Geschlossenheit und Bedeutung erreicht zu haben. Dies enthält eine
Menge origineller Ideen und Gedankengänge, leider aber ebenso viel
Halbgares und groben Unfug. Nur: Dieses beredte Buch enthält letztlich
weder eine ernstzunehmende Geschichte des sozialen Fortschritts, noch –
außer allerlei pseudokonsequentem Begriffsfirlefanz und einem bunten
Sammelsurium an anregenden Geistesblitzen - brauchbare Vorschläge oder
gar Konzepte für kommende soziale Bewegungen.
Abgesehen davon, dass den Autoren wie dem Lektorat hier und da die
Übersicht über manch gestelzte Satzkonstrukte entglitten ist: Selten
bekommt man die Attitüde innovativen Denkens in solch altbackenem
Begriffsgeschwurbel vorgesetzt. Stellenweise ergibt sich der fast schon
rührende Eindruck, dass hier Denk- und Sprechweisen einer längst
vergangenen Szene konserviert und perpetuiert werden wollen, deren Zeit –
siehe Eingangszitat – vor ungefähr zwanzig Jahren zu Ende war. Diese
gewissermaßen linkssentimentalen Texte kommen abwechselnd im
substantivischen Belehrungston marxistischer Klassiker, im
größenwahnsinnigen Duktus von RAF-Weltrettungsmanifesten oder im
szenig-akademischen Sound kulturfeuilletonistischer Bedeutungsanalysen
daher, öfters auch in allem zugleich: Theoretischer Neomarxismus meets
postulierenden Popdiskurs. Stilistisch leider eine ziemlich
unbekömmliche Mischung!
Der „Versuch, die Geschichte nicht allein dessen, was wirklich
geschehen ist, sondern auch dessen, was möglich war, zu erzählen…“
enthält, zieht man die bedeutungshubernde Überwältigungssprache einmal
ab, viel erschreckend banal-naive Wunschzettelprosa darüber, wie die
Welt am besten „eigentlich sein müsste“, aber wenig Brauchbares zur
Erlangung all jener sattsam bekannten hehren Menschheitsziele wie
Frieden, Gerechtigkeit usw. - außer vielleicht der Einsicht, dass
sozialer Fortschritt heuer auch ohne klar umrissene Ideologie „gedacht
werden kann“. Die geistigen Schlussfolgerungen nach über 800 Seiten
Parforceritt durch die bunten Geschichten des „was wäre wenn“ lauten
dann beispielsweise: Lohnarbeit „verdient nichts Besseres als die
Aufhebung“. Mhm. Oder dies: „Der Zugang einer möglichst großen Anzahl
von nicht erpressten, nicht erpressbaren Leuten zu Maschinen, die
Energie und Information herstellen, speichern, übermitteln,
verschlüsseln oder explizieren sowie die Verhältnisse der Umwandlung,
Implikatur, Explikation zwischen Energie und Information eichen,
bestimmen, verändern können, ist gesellschaftlich einzurichten und zu
schützen.“ („Gesichtskreise des Fortschritts“ S. 811f) Das Buch, man mag
es kaum glauben, endet schließlich mit folgender fanfarenhafter
Forderung an Leser und Menschheit: „Das Unrecht… schätzt keine
Überraschungen … Es Muss weg, wo Menschen als Menschen leben wollen.“
(S. 835 - danach folgt der Appendix.)
Aha. Nun ja. Da werden wohl einige zustimmen können. Es keimt der
Verdacht, dass dieses Buch kaum dazu gedacht wurde, tatsächlich etwas
Allgemeingültiges über den sozialen Fortschritt mitzuteilen und
vorzuschlagen, als vielmehr Bedeutungstaub und abzuarbeitendes neues
Theoriefutter für bestimmte akademische Zirkel zu liefern, denen längst
der Nachschub an diskutierenswertem Papier ausgeht. (Dafür spricht u.a.
auch die Vorbemerkung der Autoren, dieses würde Buch wohl vor allem
denjenigen etwas geben, die ihre „politische Zielsetzung ohnehin teilen“
– ein Spezialdiskurs für Eingeweihte im 900-Seiten-Taschenbuch bei
Suhrkamp also.) Vielleicht aber träumt der umtriebige Endlos-Vordenker
Dietmar Dath heimlich ja auch von einer künftigen, blau gebundenen
Gesamtausgabe seiner Werke, die dereinst die (virtuellen?) Regale
kommender Marxisten-Dathaisten-Generationen zieren soll - wie weiland in
den rot-goldenen Siebzigern die MEGA, die legendäre
Marx-Engels-Gesamtausgabe – gern auch mit Schreib-Genossin Barbara
Kirchner als „neuer Engels“…? Solche Bücher sind wahrlich noch viele
denkbar; das Prinzip linkstheoretischer Erbauungslektüre ist in
Krisenzeiten wie der unseren durchaus ausbaufähig. Als Antwort auf die
Frage, ob die Lektüre lohnt, gilt vielleicht auch für dieses launige
Konvolut aktueller Rettungsdiskursgeschäftigkeit: „Die Philosophen haben
die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu
verändern.“ (Karl Marx, Feuerbachthesen, MEW 3:7.) - Das ist also auch
nichts Neues.
Dietmar Dath, Barbara Kirchner: Der Implex, Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee, 880 Seiten, ISBN: 978-3-518-42264-9, 29,90 Euro Suhrkamp/Insel Berlin 2012