Samstag, 11. Februar 2012

Die griechische Tragödie (3)


Schneeregen bei grau verhangenem Himmel und Plusgraden. Das Jugendgefängnis von Volos ist ein flacher Gebäudekomplex mitten in der Oberstadt. Ioannis meint, er sei Ende der Siebziger in noch relativ unbesiedelter Gegend errichtet worden, später hätte jemand günstig Grund darum herum erworben und Billigstwohnungen gebaut (das nahe Gefängnis drückte die Preise extrem)  - jetzt klagen Mieter und Besitzer gemeinsam gegen die „gefährlichen Nachbarn“ und wollen, dass das Gefängnis nach außerhalb der Stadt verlegt wird.
  Innen alles eng, funktional und primitiv wie in einer Russenkaserne der Achtzigerjahre. Die wuselnden Beamten nehmen uns die Pässe ab und winken uns fröhlich durch die Kontrolle, obwohl bei wirklich jedem von uns der Metalldetektor anschlägt. („Its Greece, you know, hahaha.“) Die Tasche mit meinem unentbehrlichen Laptop wird uns allerdings abgenommen und kontrolliert, wir bekommen sie später gebracht, sagt man.
  Kurzes Hallo im engen Büro des recht jungen Direktors, die fröhliche Sozialarbeiterin übersetzt und erklärt alles. 152 jugendliche Ausländer (ausschließlich!) zwischen 17 und 21 Jahren in einem Knast für 80 Personen, an dem seit der Erbauung in den Siebzigern so gut wie nichts gemacht wurde. Die Zellen usw. bekommen wir nicht gezeigt, aber da die drei mit viel Phantasie umfunktionierten „Klassenzimmer“ der gastgebenden Knastschule vorher reguläre Zellen waren, können wir uns ein Bild machen: Wo in Deutschland höchstens zwei Leute zusammen dauerhaft untergebracht werden dürften, wohnen hier acht Leute. Der größte Raum fasst 22 Häftlinge, einige müssen auf dem Boden schlafen. Fast niemand kann richtig Griechisch, es ist ein reiner Ausländerghettoknast: „alles andere gäbe nur dauernde Kämpfe“… (so viel zum Thema Xenophobie). Also ist Griechischlernen das wichtigste Fach. („Aber das ist verdammt schwer, nicht nur für Knackis.“)  Nur die (dominierenden) Albaner bekommen hin und wieder familiären Besuch, alle anderen (Araber, Pakistaner etc.) sind ganz auf sich gestellt. (Die Schwarzen enthält man uns ganz vor, sie werden nicht einmal erwähnt.) Man zeigt uns also eigentlich gar nichts vom Knast, aber dafür dürfen wir etliche Gefangene der Gymnasialstufe nicht nur treffen, sondern verbringen den Vormittag mit und unter ihnen in der Schule genannten Zellenenge.
  Mich spricht Ali an, ein umgänglicher, höchstens zwanzigjähriger Libanese mit auffallend heller Haut, dunkeln Haaren und blauem Sweatshirt, der fließende Deutsch spricht, und zwar, weil er, wie er sagt, in Bremen geboren sei. Und das ist seine Geschichte: Er hat in Bremen, wo er aufwuchs, „Mist gebaut“ und wurde daraufhin abgeschoben, als er achtzehn wurde -  während seine gesamte Familie in Deutschland blieb. Er kam so zum ersten Mal in seinem Leben in den Libanon: Er kannte niemanden und konnte die Sprache nicht. Von seinem Ersparten mietete er sich eine Wohnung und nahm einen Hilfsjob in einer Garküche an. Er lernte „auf der Straße“ mühsam Arabisch und musste sieben Monate warten, ehe die libanesischen Behörden seinen Reisepass freigaben. Dann raffte er sein restliches Erspartes zusammen und machte sich über Syrien und die Türkei auf den Weg in seine Heimat: Bremen… Er bezahlte einen türkischen Schlepper, ihn nach Griechenland zu bringen (was der entscheidende und gefährlichste Schritt zurück nach D ist). An der Grenze wurden sie gestellt, aber der Schlepper konnte entkommen, er sprang in den Fluss und schwamm zur türkischen Seite, die ein griechischer Grenzer niemals betreten würde. Jetzt hatten sie nur noch die abgezockten Einwanderer. Außer Ali waren alle anderen Schwarze. Weil Ali trotz arabischen Typs fast weiß aussieht, wurde er für den Schlepper gehalten und wegen illegalen Menschenhandels verhaftet. Während die anderen nach ein paar Tagen allesamt freikamen, schickte man ihn ins Jugendgefängnis von Volos, wo er nun seit zehn Monaten auf sein Verfahren wartet. Ali sagt, es würde in den nächsten Wochen an einem Gericht nahe der türkischen Grenze stattfinden, dort, wo man ihn geschnappt hatte. Er will seine Unschuld so beweisen:  Er besitzt einen Reisepass, in dem durch Grenzstempel bewiesen ist, dass er vom Libanon kommend (den er sieben Monate nicht verlassen hatte) nur einen Tag in Syrien und einen Tag in der Türkei verbrachte, ehe er verhaftet wurde. In dieser Zeit hätte er unmöglich zu einem Mitglied der der türkischen Schleppermafia werden können, sagt er. Und ist zuversichtlich, dass er freigesprochen wird. Derweil bemüht er sich Griechisch zu lernen, obwohl er auf die Griechen nicht gut zu sprechen ist: Seine letzten 1500 Euro habe er einem hiesigen Anwalt gegeben, um ihn rauszuhauen, der aber schon zum ersten Termin vor dem Haftrichter nicht erschienen sei und sich seitdem auch nie wieder hätte blicken lassen.  Wie die meisten hier hat er auch nie Besuch, seine Familie bleibe vorsichtshalber in Bremen, wo er bald eine türkische Deutsche heiraten wolle.
  Keine Ahnung,wie weit ich Alis Geschichte trauen kann, aber ich finde ihn, ähnlich wie die meisten anderen der ca. 10 Jungs, die wir kennenlernen, ziemlich unkompliziert und umgänglich. Auffällig ist, dass sie durchweg sehr diszipliniert und ausgeglichen wirken, durchaus nicht unter Druck. Äußerst erstaunlich angesichts der Tatsache, dass sie monatelang im Ungewissen mit anderen Gleichaltrigen auf engstem Raum leben und nichts als eine halbe Stunde Schule pro Tag haben! Fernsehen und Zeitung gibt es zwar, aber wenn man kein Griechisch kann, hilft das nicht viel, auch eine Bibliothek gibt es nicht. Sport, Kunst oder ähnliches – alles undenkbar und unmöglich: Absolut kein Platz dafür und Geld sowieso nicht. Einen Pakistaner gibt es, der zeichnet gut und wird gefördert – aber nur von den drei Lehrern. Gymnasiumsunterricht für ca. 50 Insassen findet tagsüber statt; Grundschule für ca. 50 Insassen ist abends, die 50 übrigen „Bildungsunfähigen“ arbeiten die Woche über und haben am Wochenende eine Art Grundbildung, Vorschule genannt. Ansonsten hat jeder pro Tag ein bis drei Stunden Auslauf auf dem Innenhof, der selbst zum Basketballspielen nicht groß genug ist, sagt Mathelehrer Ioannis.
  Anastasia und Ioannis präsentieren eine preisgekrönte, vielsprachige Webseite zum Thema Menschenrechte, die sie mit ihren Schützlingen im letzten Jahr erstellt haben. (Sehr schön! Nur, dass Knackis nirgendwo auf der Welt freien Zugang zum Internet haben...) Dann gibt Alan auf Englisch seine vierzigminütige Performance „The Insider“ über das Leben aus der Sicht eines Inhaftierten anhand von Zitaten aus der Weltliteratur. Ich bin der Mann am Laptop, der die dazugehörigen Bilder (Kollwitz, Rembrandt usw.) und Übersetzungen an die Wand wirft. Alan verwandelt sich in Brecht und Malvolio, Hamlet oder Jeanne d’Arc, er deklamiert und singt, flüstert und rezitiert wie immer mit größtem Enthusiasmus – die Jungs amüsieren sich und lauschen brav, auch wenn sie nicht viel verstehen, während die restlichen Besucher zumeist mit dem Schlaf kämpfen. Wir sitzen zu dreißigst in einer Zelle für maximal sechs – ein dem Thema durchaus angemessener Zustand. Hinterher quatschen wir noch, es werden Fotos gemacht und gemeinsam das Gebäck der Lehrerinnen genascht.
  Das Mittagessen im Knast ist dann aber plötzlich abgesagt, offiziell aus technischen Gründen. Aber ich erfahre von einem Angestellten, dass es derzeit in allen griechischen Gefängnissen Unruhen und Spannungen gibt, was Grund für die hohe Sicherheitsstufe ist, die uns eine Besichtigung des Knastes ebenso unmöglich macht, wie das besuchsweise Essen in der Knastkantine – in Erwartung eines neuen Gesetzes, das für viele eine Amnestie bedeuten könnte, werden die Gefangenen langsam ungeduldig, weil die Politiker der Regierungskoalition (aus drei Parteien) sich nicht einig sind und sich derzeit um ganz anderes kümmern (wir erinnern uns: gestern Mittag erst hat Griechenland den Staatsbankrott abgewendet, indem es sich mangels Alternative den für viele Griechen extrem existenzbedrohenden Knebelbedingungen der EU ergeben musste – und noch ist dadurch nichts geklärt, gelöst oder auch nur klar genug entschieden)… Wir verdanken diesen gefängnisinternen Spannungen immerhin, dass wir in einer modernen griechischen Garküche am weitläufigen Hafenkai mit Hausmannskost aus Volos versorgt werden – und anschließend noch von unseren Gastgebern in eine nahegelegene Eisdiele eingeladen werden, in der ich tatsächlich das wunderbare Kaimakis-Eis finde, das nach dem sommerlichen Mastix-Baumharz der Insel Chios schmeckt…  das gibt es nur in griechischen Gefilden.
  In der Stadt soll es heute schon mehrere Demonstrationen gegeben haben, aber natürlich haben wir davon nichts mitbekommen. Überhaupt erscheint mir hier angesichts der Lage alles unglaublich ruhig. (Nur einmal, gegen Abend, hörte ich auf der Uferhauptstraße einen Lautsprecherwagen vorbeifahren und irgendwelche aufgeregten Brüllereien verbreiten, aber niemand kümmerte sich darum.) Beim Abschied am Nachmittag informiert uns Anastasia, dass aller Wahrscheinlichkeit nach Busse und Flüge vom morgigen Streik nicht betroffen sein werden (er betrifft vor allem den öffentlichen Dienst der nationalen Institutionen). Ob ihre Bemerkung, dass heute eigentlich alle Schulen streikten, also auch die Gefängnisschulen, ernstgemeint ist, kann keiner von uns wirklich einschätzen. Dafür, dass hier allen das Wasser bis zum Hals steht, waren alle sehr ruhig und nett, eigentlich fast unglaublich. (Vielleicht ja auch einfach Schicksalsergebenheit? Ick weeß et nich.)

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