Sonntag, 19. Oktober 2014

Amerika 1 - Ost Virginia

Gut - dass bei der Landung in Kopenhagen die Maschine wegen plötzlicher Seitenwinde noch einmal durchstarten musste, obwohl die Räder den Boden der Landebahn bereits berührt hatten, war ein kleiner Schreck, aber wir folgen den Flughafen einfach noch einmal von der anderen Seite her an und dann klappte es. Auch dass ich den großen Transatlantik-Airbus nach Washington nach dem Einsteigen noch einmal verlassen musste, weil ich meinen Herbstmantel einsam und allein im Warteraum zurückgelassen hatte, war kein großes Problem. Und dem nächtlichen Streik der Lokführer, der den Berliner S-Bahnverkehr lahmgelegt hatte, begegnete ich zu Beginn der Reise einfach, in dem ich mir eine Stunde länger Zeit für die Anfahrt auf Tegel genommen hatte, was auch tadellos funktionierte... Schon in Berlin war ich wie immer noch vor dem Abheben in einen tiefen Schlaf gefallen: Irgendwie hat mein Körper in den letzten Jahren den Reflex herausgebildet, in ein erholsames Reisekoma zu verfallen, sobald er einen Flugzeugsitz berührt. (Ein Überbleibsel der vielen Fliegerei in Indonesien, wo der Körper lernte, sich sofort Schlaf zu holen, wann immer Zeit und Ruhe dafür blieb.) Nach der üblichen Bordverpflegung geriet ich also kurz hinter Schottland ins Traumland und wachte erst über Montreal wieder auf. Die Landung in Washington Dulles verlief unspektakulär, die Hügel um die Stadt leuchteten zwischen den Wolken in den gleichen Farben wie die Wälder um Berlin. Dann allerdings stand ich mehr als zwei Stunden in der dichtgedrängten multikulturellen Warteschlage für Einreisende ohne amerikanischen Pass, was am Ende eines mehr als zehnstündigen Fluges nicht ganz angenehm war. Man ließ mich ins Land, obwohl ich im Gegensatz zu den anderen meine ESTA-Anmeldung nicht ausgedruckt hatte. Gegen drei gelandet (was mein Körper sofort als  geltenden Nachmittag akzeptierte), konnte ich gegen halb sechs endlich in den roten Nissan-Pathfinder von Tony Mendoza steigen, der mich (im Auftrag der University of Mary Washington) (unter vielfachem Abspielen von ihm geliebter Saxophonsongs von seinem I-Pod) in weniger als zwei Stunden durch den zähfließenden Feierabendverkehr auf Virginias Highways Richtung Süden nach Fredericksburg bugsierte. (Es fühlte sich nicht viel anders an als eine Fahrt auf dem Berliner Ring.)

Das Häuschen von Marcel und John liegt in einer stillen Seitenstraße unter großen Bäumen. Weiß gestrichen, mit wunderbaren Schnitzereien verziert und von allerlei bestens gedeihenden Pflanzen umgeben, erscheint es mit seinen kleinen Zimmern voller geschmackvoller Möbel und dem kleinen Garten als Inkarnation angenehmer Geborgenheit. (Die weißen Korbsessel auf der kleinen Frontveranda haben selbstverständlich dezente Schaukelkufen.) Ich werde schon erwartet und bekomme in der Abenddämmerung neben Cider im Garten und  einer köstlichen Herbstsuppe in der Küche auch das gemütliche Arbeitszimmer unterm Dach - und bin angekommen in Amerika.

Am nächsten Morgen führt mich John ein paar Schritte die Straße hinunter, wo zwischen Bäumen und fetten Uferwiesen gemächlich die braunen Wasser des Rappahannock Rivers entlangströmen (the mighty Rappahannock, wie John immerfort ergänzt). Über eine Brücke gelangen wir auf die Hügel der anderen Seite, wo in der goldroten Sonne des Indian Summer (wir sind ja auf uraltem Indianerland) die roten Backsteinhäuser von Chatham Manor liegen – einem legendären Ort vor allem während des amerikanischen Bürgerkriegs, von dem aus man die ganze Stadt Fredericksburg mit ihren Türmchen und Giebeln friedlich vor sich ausgebreitet überschauen kann. Die Wohnhütten der einstigen Farmsklaven stehen nicht mehr (weil sie eben nicht aus Backstein, sondern nur als Holz waren), aber Schautafeln erinnern daran. Der eifrige house guide in seiner Nationalpark-Uniform erklärt uns, dass Washington, Madison und Jefferson hier aus und eingegangen seien und dieses kleine Anwesen während der großen Schlachten des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges ein legendäres Notlazarett gewesen sei. Auch der Bruder des Dichters Walt Whitman sei hier verwundet worden, und als dieser schließlich kam und ihn besuchte, berichtete er später von Hunderten improvisierter Amputation, nach denen man die abgeschnittenen Glieder der Verwundeten aus Zeitmangel einfach aus dem Fenster geworfen und draußen unter den Bäumen zu einem Kegel aufgeschichtet habe...
                                               

Fredericksburg in Virginia ist also eine kleine Stadt mit großer Vergangenheit, einer der wenigen Orte in den USA, in denen man auf Schritt und Tritt Vergangenheit entdecken und der Geschichte begegnen kann. (Mich erinnert es ein wenig an Weimar – auch so einer kleinen Stadt mit großer Vergangenheit, die man heute mit viel Hingabe und großem nostalgischem Selbstbewusstsein pflegt. Allerdings ist Fredericksburg etwas luftiger und weniger eng, man spürt schon deutlich den Süden und ein wenig auch den Atlantik, der – wenn auch schwer erreichbar – nur etwa 50 Meilen Luftlinie entfernt ist.) Hier landeten einst die ersten britischen Siedler dieser Gegend und eroberten das Land. Das erklärt uns ausführlich und mit großem Enthusiasmus der schneidige Jack Edlund, der das uralte steinerne Lagerhaus an der Rappahannockbrücke von der Stadt übernommen hat, und als privater Archäologe dessen vier Stockwerke (von denen nur noch das oberste auf Straßenniveau herausschaut) nun Schicht für Schicht aus den Schlammschichten des Flusses gräbt, und dabei Unmengen an Kanonenkugel, Münzen, Degen, Bajonetten aber auch Pfeilspitzen und Keramik zutage fördert, die er in staubigen Vitrinen seines schummerig beleuchteten Steinhauses stolz präsentiert. 

Wir essen als ortsüblichen Mittagsimbiss in einer kleinen Eatery in der verträumte Haupteinkaufstraße (die neben der üblichen patriotischen Deko übrigens auch mit etlichen deutschen Fahnen geschmückt ist – kürzlich war eine Delegation der deutschen Botschaft in der Stadt) warme Sandwiches (ich einen John Monroe, John den legendären Reuben) mit Essigchips und dazu Pflaumenlimo und schlendern weiter durch die beschaulichen Straßen mit den großen Bäumen und den großzügig angelegten Häuschen und Villen, von denen keines höher als zwei Stockwerke ist. 


Schließlich erreichen wir das großzügige Gelände der University of Mary Washington (UMW), wo zwischen großen Bäumen und gut gepflegten Wiesen zahlreiche rote Backsteingebäude um einen hohen Märchenturm mit goldener Kuppel verstreut liegen. Auch hier herrscht eine unaufgeregte, ruhige Atmosphäre mit ein wenig ländlich-britischem Flair und einem Hauch Süden. Ich bespreche in Marcels Büro mit Nathan, einem freundlichen Deutschstudenten mit ehrgeizigen Business-Ambitionen für Deutschland, die Übersetzungen meiner Lesetexte; dann laufen wir hinüber zu Marcel, der mit seinen Studenten auf einer der Campus-Wiesen - tja nun - die Berliner Mauer wiedererrichtet. Junge Amerikaner sprühen fröhlich deutsche Sprüche auf weiße Styroporplatten und fügen sie dann unter Anleitung eines projektführenden Kunststudenten im milden Abendlicht der Sonne von Virginia zu einer Mauer zusammen, die beim anschließenden Fotoshooting mit Angela Merkel (als Pappfigur bereitgestellt von der deutschen Botschaft) tatsächlich eine Art East-Side-Gallery-Gefühl erzeugt. Am 6. November soll diese Mauer dann in einer öffentlichen Aktion feierlich eingerissen werden - am 9. November hat man wegen Wochenendes leider keine Zeit dafür.




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