Andreas
Reckwitz' kluges Buch über die Rundum-Ästhetisierung unserer Gesellschaft
„Sei
kreativ!“ heißt der unumgängliche Imperativ unserer Zeit. Vom Kindergarten bis
zum Altersheim: Kein Einkaufszentrum ohne Mitmachbühne; keine Mediekampagne
ohne Einsendemöglichkeit für gestaltungswütige Interaktive; kein
Waldspaziergang ohne kreativ gestaltete Holz- oder Steinblöcke am Wegesrand. Jeder
darf inzwischen nicht nur Künstler sein, er soll es, will es und muss es. Nicht
nur im Hinblick auf die Schaffung von Kunstwerken: Ohne ein Mindestmaß an
Kreativität gibt’s keinen Job und keine Anerkennung mehr; unser ganzes Leben
soll mittlerweile eine von uns hochkreativ gestaltete, einzigartige
Selbstschöpfung sein. Gelingendes Leben heißt Kreativität, wie uns die
flüsternden Stimmen aus Beurteilungsbögen, Werbetrailern und Bestsellerlisten
unermüdlich bestätigen. Und ausgerechnet die weltferne, unsolide und bis vor
wenigen Jahrzehnten verfemte Künstlerboheme mit ihren surrealen Einfällen und
sprunghaften Stimmungen liefert offenbar die Matrix, den Prototyp heutigen
Handelns. Querdenkertum als neue Gesellschaftsnorm?
Kreativitätsdispositiv
nennt das, in Anlehnung an die Foucaultsche Begrifflichkeiten für
gesellschaftswirksame Diskursfelder, der Kultursoziologe Andreas Reckwitz. Der
Autor, Professor der Kulturwissenschaften in Frankfurt (der alten
Universitätsstadt bei Berlin), geht in seinem neuesten Suhrkamp-Band „Die
Erfindung der Kreativität – Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung“
einem epochemachenden Prozess auf den Grund: Der Entstehung eines globalen postmodernen
Kapitalismus‘ aus dem Geist der Kreativität. Reckwitz betrachtet das bislang zu
wenig hinterfragte Phänomen gründlich und in allen Aspekten - sein Buch gleicht
einer Rundumschau zum aktuellen Erkenntnisstand der Kreativität: Text wie Fußnoten
und Apparat liefen die Bandbreite der wichtigsten Literatur aus Soziologie, Politikwissenschaft
und Kulturtheorie der letzten Jahrzehnte zum Thema und binden sie verständlich
ein in den ruhigen, gut strukturierten Fluss der Überlegungen.
In acht - im
sachlichen Wissenschaftsduktus geschriebenen - Kapiteln, die durch ihre hohe
Informationsdichte und die Verknüpfung verschiedenster Ansätze und Diskurse
überzeugen, skizziert Reckwitz eine Diagnose unserer Epoche, die in ihren Einzelheiten
längst bekannt, in der Gesamtschau jedoch verblüffend erscheint: Weniger der politische
Epochenwandel von 1989 als vielmehr der weltweite Wechsel von der funktional-naturwissenschaftlichen
Orientierung gegenwärtiger Gesellschaften seit den 1960er Jahren hin zur durchkulturalisierten
Kreativgesellschaft von heute scheint der entscheidende globale
Paradigmenwechsel zu sein, der das Schicksal unserer gesellschaftliche Realität
entscheidend prägt: Der Schritt von der kognitiven zur ästhetischen
Gesellschaftsnorm.
Um dies zu
veranschaulichen, beschreibt und deutet Reckwitz entscheidende Phänomene der
letzten einhundert Jahre wie etwa die allmähliche Ablösung des Kunstwerks durch
das Kunstereignis (Performativität, Festivalisierung), das soziale Regime des
immerfort Neuen, die kulturelle Ökonomie unserer Starsysteme, die
Ästhetisierung des Ökonomischen (Stichwort: Design) oder die Etablierung von
Werbung und creative industries als
neue ökonomische Leitbranchen. Die
Kulturalisierung der Stadt (als creative
city), die Ästhetisierung des Sozialen und die Emotionalisierung von
Wirtschaft und Politik werden mit eigenen Kapiteln so umrissen, dass man sowohl
die Prozesse selbst als auch verschiedenste wissenschaftliche Positionen dazu
erfassen und sich ein erstes Bild vom Ausmaß des Wandels machen kann, auf den
Reckwitz mit diesem Buch fundiert aufmerksam macht.
Erstaunlich,
wie von Reckwitz überzeugend herausarbeitet wird, dass nicht etwa die Ökonomie
das Feld der Kreativität unterwandert und durchkommerzialisiert hat, sondern
dass umgekehrt die Kreativität längst zum rettenden Motor und zum
charakteristischen Wesen unserer gegenwärtigen globalen Ökonomie geworden ist. Dieses Buch sei deshalb keineswegs nur Kultursoziologen
und Berufskreativen ans Herz gelegt, sondern allen, die verstehen möchten, was
unsere gegenwärtige Gesellschaft antreibt und wohin sie treibt. „Die Erfindung
der Kreativität“ ist ein wesentlicher theoretischer Beitrag zum Verständnis unserer
Epoche: Wir leben offenbar längst im Ästhetischen Kapitalismus. Wenn man wissen
möchte, was das heißt, kann man bei Reckwitz erstaunlich viel lernen.
Andreas Reckwitz: „Die
Erfindung der Kreativität – Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung“
suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Berlin 2012
suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Berlin 2012
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