Montag, 22. Dezember 2014

sommerlied (1977)


Dort wo du hinschaust, geht ein Wind vorüber,
die Bäume über dir sind von ihm voll.
In deinen Händen riecht die Luft nach Ernte,
als ob die Zeit der Reife kommen soll.
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Ich seh dich an und seh durch dich den Sommer.
Ich bin der Gast in dieser Sommerruh.
Ich möchte so noch gerne etwas bleiben.
Der Sommer meint es gut mit mir. Wie du.


(Heinz Kahlau)

Samstag, 29. November 2014

Political Correctness: Was bewirkt "politisch korrekte" Sprache?

"David Foster Wallace, der Autor von 'Infinitive Jest', hat afroamerikanische Studenten nicht nur im Gebrauch von 'weißem Englisch', sondern auch 'politisch korrektem Englisch' unterrichtet, das er als eine noch höhere Hürde erlebte. In einem Essay für das Magazin Harper's folgert auch er, dass zur Etikette geronnene politische Korrektheit politischer Aktion im Wege steht: 'Der strenge Code egalitärer Euphemismen dient dazu, genau die Art von schmerzhaftem, unschönem und manchmal beleidigendem Diskurs zu unterdrücken, der in pluralistischen Demokratien zu wirklichen politischen Veränderungen führt.'"

(Quelle: Robin Alexander in Die Welt 29.11. 2014)

Mittwoch, 12. November 2014

Amerika 9 - Einmal um die halbe Welt



Wenn man von Portland aus die Landstraße nach Westen nimmt, gelangt man durch bewaldete Bergzüge vorbei an goldschimmernden Weinhügeln in etwa zwei Stunden an die Küste. Vorher frühstückten wir aber noch in der Portland-Variante: An einem Stand des dicht bevölkerten hiesigen Ökomarktes (vgl. Kollwitzplatz, hier jedoch mitten auf dem Uni-Campus-Gelände mitten in der Stadt!) gibt es (open air!) feinste biologische Burgerkompositionen aus erlesensten lokalen Zutaten und Kräutern (natürlich alles garantiert glutenfrei!) für die man (zu Recht!) eine halbe Stunde anstehen muss – selten so amerikanisch & köstlich zugleich (warm!) gefrühstückt…  Oregonian breakfast im Stehen mit Live-Musik von den farmers market Freaks (während die Lokalpresse bereits über meine ungewöhnliche, fast 25-jährige Freundschaft mit Kevin berichtet)...

Bevor wir dann auf unserer ca. zweistündigen Autofahrt die Küste erreichen, halten wir an einer kleinen rotbraunen Hütte am Straßenrand – das ist das legendäre Otis Café, nicht nur einer der gerühmtesten Frühstücksplätze von ganz Oregon - mitten in der Pampa. Und tatsächlich, drinnen ist es gerappelt voll (obwohl es ringsum keine Ortschaft gibt). An den Wänden des gemütlichen Häuschens wimmelt es von Souvenirs und lobenden Zeitungsartikeln aller überregionalen großen amerikanischen Tageszeitungen über diesen Ort, und die überaus familiäre Bedienung kredenzt uns an der Bar (anderswo ist kein Platz zu finden) gut gelaunt Kaffee mit köstlichem Marionberry Kuchen. 

Am Neskowin Beach erreichen wir schließlich den Pazifik. Sonne und Wind zaubern für uns in dieser freundlichen Bucht mit dem schier endlosen breiten Sandstrand (ganz ohne Muscheln, die Strömung  reißt sie alle mit) eine ganz besondere Atmosphäre aus Gischtnebel und Licht. Kurz vor dem Strand liegt buckelig und imposant eine kleine Felseninsel  im Sand, die vollständig mit zauseligen Waldbäumen bewachsen ist, man könnte hin waten. Kevin und ich stimmen überein: Man bringe uns einen bequemen Stuhl! Und ab und zu einen heißen Tee mit etwas gutem Gebäck vorbei. Wir verbrächten den Rest unserer Tage damit, von hier aus schweigend auf das Meer zu blicken und den Wellen beim Kommen und Gehen zuzusehen…  Die windflüchtenden Pinien und die Holzhäuser in den Dünen geben mir ein vertrautes Gefühl – nur dass diese „Ostseeszenerie“  irgendwie zehn Nummern größer ist und Wind und Sonne mit ganz anderer Macht auftreten als zuhause. Hier kann man schnell verloren gehen in der weiten, grellweißen Lichtsuppe. Was Lisa und mich nicht daran hindert unsere Schuhe auszuziehen und fröhlich durch die pazifischen Wellenausläufer zu patschen. 


Am Tag darauf fährt mich Kevin (exakt Prof. Dr. Dr. Randolph Kevin Hill) auf den alten Indianerpfaden der Interstate Nr. 5 von Portland über Salem hinunter nach Eugene/Oregon. Hier werde ich im Hotel nahe des Universitäts-Campus‘ einquartiert und am nächsten Morgen holt mich Matthias Vogel von der University of Oregon zu einer Tour durch das Studentenstädtchen mit der wichtigsten Uni des Bundesstaates ab. Der sehr weitläufige Campus besitzt neben wenigen älteren Gebäuden eine auffällig große Zahl modernster und großzügigst ausgestatteter Gebäude für nahezu jeden Wissenszweig (von Kernphysik mit unterirdischem Teilchenbeschleuniger über eine eigene tägliche Campuszeitung der Journalisten bis zu einem Theater mit Werkstätten und allen Schikanen): Das relativ kleine Eugene ist „home of NIKE“ und hat deswegen auch einige potente Sponsoren für Wissenschaft, Kunst und Kultur – insbesondere jedoch für den Sport (Leichtathletik, Basketball usw.) – die teilweise noch im Bau befindliche Studententurnhalle wirkt dann auch geradezu wie ein sanfter Palast der Körperertüchtigung im Internetzeitalter. Doch auch viele Lehrgebäude wirken cool-schick und bequem-hypermodern wie experimentelle Kunstmuseen; und im teuersten Studentenwohnheim (72 Millionen Dollar, 450 Bewohner) der Gegend gibt es neben einem großen lodernden Glas-Kamin im Foyer auch eine Bibliothek mit eigener Präsenz-Bibliothekarin und Studier-Lounges mit edler Wohnzimmeratmosphäre (nicht zu vergessen eine gemütliche, anmietbare Tresenküchen-Empore für Partys, eine weitläufige Cafeteria, bestens ausgestattete Lehrkabinette, Terrassen etc. pp.)… Downtown Eugene treffe ich dann zwischen den lokalen Pflasterpunks („mall rats“) und ihren ähnlich verpeilten Haus(??)tieren auf den ein Buch lesenden Ken Kesey  (der Verfasser von „Einer flog über das Kuckucksnest“ verbrachte hier seinen Lebensabend). Und in einem Supermarkt entdecke ich den in Scheiben geschnittenen van Gogh (siehe Bild oben) im Käseregal – geht es hier um sein Ohr?  

Die Lesung/Vorlesung in Eugene findet dieses Mal in einem gut gefüllten Hörsaal voller zumeist nicht Deutsch sprechender Studenten verschiedenster Studienrichtungen statt; es herrscht eine konzentrierte Atmosphäre, die mir sagt, dass die meisten offenbar zum ersten Mal Details über East-Germany etc. erfahren. Die Diskussion findet jedoch auf erfreulich hohem Niveau statt – ebenso wie das anschließende Treffen beim Edel-Italiener von Eugene mit den überaus angenehmen Kollegen von der hiesigen Deutschfakultät (danke Susan, Alex, Wolfgang und Judith). Eugene erweist sich als eine relativ kleine, grüne Stadt am Willamette River mit einer bemerkenswert starken, topmodernen und in jeder Hinsicht angenehmen Universität.  
Die Heimreise wird lang: Vom Nordwesten der USA muss ich zunächst wieder an die Westküste. Matthias Vogel, der gute Geist von Oregon, der mich freundlicherweise vor seinem Arbeitstag an der Uni frühmorgens noch zum Flughafen bringt, kommt vor Schreck eine Stunde zu früh und klingelt mich schon 4:15 Uhr aus dem Hotelbett… Mein amerikanisches Frühstück (Oatmeal und Burger) bekomme ich dann in Los Angeles – auf dessen Flughafen ich mich für drei Stunden rumtreibe, ehe ich (im Reisekoma) weiter nach Washington fliege. Abends um acht lande ich schließlich auf dem nationalen Ronald Reagan Airport, den ich mittlerweile gut kenne  - allerdings fährt die blaue Metrolinie heute nicht: Am elften Elften ist in den USA weder Karnevalsbeginn noch Martinstag, sondern veterans day! An dem man für einen Tag symbolisch und mit viel demonstrativer Emotion all der Helden militärischer Aktivitäten gedenkt. Deswegen gibt es auf der national mall Massenkonzerte mit Rihana, Eminem, Bruce Springsteen und andern Größen der hiesigen Popkultur – die Washingtoner Innenstadt ist folglich gesperrt und mit mehr als 800 000 Leuten überlaufen (ganz wie am Tag der deutschen Einheit die Straße des 17. Junis in Berlin). Ich schaffe es dennoch in einer guten halben Stunde (mit einer anderen Metro) hinaus bis nach Potomac/Maryland, wo mich Katharina Rudolf und ihre kleine Tochter Viktoria (3) für eine Nacht in ihrem gemütlichen ruhigen Haus aufnehmen – gewissermaßen eine Rahmenhandlung der Freundlichkeit, denn Katharina hatte mich ja schon ganz am Beginn dieser Tour in Washington willkommen geheißen. (Katharina zeigt mir Fotos von dem Hirsch, der es sich gestern im Garten hinterm Haus gemütlich gemacht hat.) 

Und dann: Start zum Flughafen am frühen Nachmittag, Ankunft in Berlin 9 Uhr am nächsten Morgen.


Samstag, 8. November 2014

Amerika 8 - Verlockendes Cascadia



Von Washington über Chicago nach Portland/Oregon braucht es (mit Fliegerwechsel in Chicago) etwa 12 Stunden (allerdings kommen noch drei Stunden Zeitverschiebung hinzu, denn im Nordwesten, an der Westküste, beträgt der Zeitabstand nun insgesamt schon 9 Stunden im Vergleich zu Berlin). Kevin und Lisa holen mich ab, und obwohl ich Kevin gute 23 Jahre nicht gesehen habe, erkennen wir uns sofort wieder. Ihre Wohnung entpuppt sich als geräumiges kleines Townhaus, das zu einer größeren Anlage gehört, die im modernen Betonbaustil von außen wenig spektakulär aussieht. Innen jedoch gibt es viel Platz und sehr viel Licht und erstaunlicher Weise blicken die wandgroßen Wohnzimmerfenster hinter dem freistehenden modernen Kamin in einen kleinen Wald, den man draußen gar nicht wahrnimmt: Jede Menge Vögel und Squirrels geben sich auf dem Balkon ein munteres Stelldichein. 
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Das Frühstück am nächsten Morgen gibt es in einem großen Café, dass es so auch in Kreuzberg geben könnte: Es ist laut und voll und multikulturell eingerichtet und das Angebot an Bio-Leckereien aller Art ist riesig. Später fahren wir auf die bewaldeten Hügel, die es hier mitten in der Stadt gibt und blicken vom japanischen Garten aus auf eine quirlige, ziemlich kleinteilige Großstadt entlang des Willamette und des Columbia Rivers. Portland ist wunderbar grün, es gibt zwischen den umliegenden Bergen sogar Stadtteile, die regelmäßig von den Cougars, den hiesigen Berglöwen, besucht werden und deswegen partiell gesperrt werden müssen. Das Klima ist mild und ausgewogen, kaum Hitze, kaum Kälte, und die Nähe der Vulkankette um den nahen Mt. St. Helens sorgt für einen äußerst fruchtbaren Boden. Portland entpuppt sich als die Hauptstadt der alternativen Szene Nordamerikas; Kevin meint, seit San Franzisco teuer und kommerziell geworden ist, fliehen vor allem Künstler, Denker und Studenten hierher, in die Hauptstadt des nordwestlichen Ökotopias von Cascadia. Man spürt hier neben einem sehr zivilen europäischen Geist auch die Einflüsse des nahen Kanadas und – zu meinem Erstaunen – Japans. Dies ist eindeutig eine pazifische Stadt. Hier entstehen die neuesten Ökotrends: Weil es wenig große Industrie gibt, entstand ein Gewimmel an Kleinstunternehmen und Startups mit den phantasievollsten Ideen, und der hiesige Lebensstil unterscheidet sich deutlich vom amerikanischen Klischee: Es gibt Fahrradwege und Straßenbahnen, kurze Wege und unglaublich gutes und vielfältiges Essen (nicht nur in den Cafés und Restaurants, sondern auch an den Hunderten Food Trucks, die hier überall an den Ecken stehen). Es gibt eine landesweit berühmte Comedy-Filmserie, die den einflussreichen Lebensstil dieser amerikanischen Alternativmetropole aufs Feinste verulkt: Portlandia könnte zu weiten Teilen auch eine Satire auf die Bewohner des Prenzlauer Berges sein. (Kein Wunder, dass ich mich hier sehr zuhause fühle. Nur dass diese Stadt hier etwas übersichtlicher ist als Berlin und zudem noch eine großartige Natur und vor allem eine spektakuläre Landschaft hat!) Meine Lesung an der Portland State University jedenfalls (in einem großen Hörsaal mit Zuhörern von sehr jung bis Seniorenalter) wird trotz technischer Probleme ein voller Erfolg, den wir anschließend in einer der besten Seafood-Kneipen der Stadt, der alten Oyster Bar begießen. 

Am nächsten Tag fahren wir mit dem Auto in die Berge: Etwa eine Stunde hinter der Stadt erhebt sich der Mt Hood, dessen schneebedeckten Vulkankegel man bei guter Sicht auch von der Stadt aus sehen kann. Die Straßen werden steiler, die Nadelbäume riesig, irgendwann liegen die ersten Schneeflecken am Straßenrand. Und dann sehe ich, der ich noch nie in dieser Ecke der Welt gewesen bin, zu meinem großen Erstaunen plötzlich etwas sehr Vertrautes: Das Overlook Hotel aus einem der großartigsten Filme, die ich je sah (Stanley Kubricks „Shining“)! Breit und mächtig thront es mit seiner einmaligen Statur aus Giebeln und Holzschindeln unterhalb des Schneegipfels von Mt Hood. Wir betreten das Innere des gigantischen Gebäudes, das die Regierung von Oregon während der großen Depression errichten ließ: Holz und Stein erheben sich zu einem riesigen Gewölbe, der Kamin führt über drei Etagen, indianische Motive schmücken behutsam die karg ausgestatteten, weitläufigen Räume – es ist die riesigste Berghütte, die ich je gesehen habe. Hinter dem Hotel, das in Wirklichkeit Timberline Lodge heißt (und im Inneren sehr anders ausschaut als das fiktive Overlook Hotel aus dem Film) klettern wir ein wenig den Berghang hinauf – hier ist eines der beliebtesten Skigebiete der USA (und man kann sich gut Vorstellen, dass die Schneestürme und Verwehungen aus dem Finale des Kubrick-Filmes hier tatsächlich stattfinden). 

Am Nachmittag fahren wir hinunter und umrunden den Mt Hood auf einer Landstraße, die durch malerische Obstfarmen zum mighty Columbia River und hinüber in den Bundesstaat Washington führt. Auf der anderen Seite des Flusses ändert sich die Landschaft schlagartig: Langgestreckte dunkle Felsplateaus erheben sich rechts und links des Canyons (des Columbia Gorges), die Natur wird karg und weitflächig – statt mächtiger grüner Bäume nur noch sonnenblondes Steppengras. Und irgendwann sehen wir auf den sonnenbeschienenen Grashügeln tatsächlich Büffel grasen.  
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Dienstag, 4. November 2014

Amerika 7 - dreierlei Ausflüge in die Geschichte



(1)
Der Northern Neck ist die nördlichste dreier Halbinseln (traditionell Necks" genannt) am westlichen Ufer der Chesapeake Bucht von Virginia. Diese Halbinsel wird durch den Potomac Fluß im Norden und den (mighty) Rappahannock im Süden begrenzt. Dort befindet sich zwischen grünen Hügel untweit des Potomacufers ein prächiges altes Anwesen, die Stratford Hall Plantation, dessen Ländereien neben einstigen Feldern u.a. auch eine Werft und einen Verladehafen umfassen. Hier hatte die britischstämmige Familie des berühmten General Lees seit dem frühen 18. Jh. einst ihren Sitz, auf dem sie in traumhafter Umgebung eine florierende Tabakplantage mit direkt angeschlossenem Schiffshandel mit England betrieb. Die Söhne dieser Familie gehörten zu den einflussreichsten Persönlichkeiten des frühen Nordamerikas, einige von ihnen wurden zu entscheidenden Pionieren der Unabhängigkeit, sodass dieses Anwesen inzwischen von einer Stiftung als Museum der frühen Geschichte betrieben wird, in dem man in der Tat Vieles über die koloniale Wirklichkeit der frühen US-amerikanischen Geschichte sehen und erfahren kann. Wie überall an den historischen Orten Virginias, die ich zu sehen bekam, ist auch hier viel Detailliertes über die segensreich-kultivierenden Aktivitäten der einwandernden Europäer zu hören und zu lesen, ein ganz kleines bisschen Generelles auch über die Sklaven (die den Hauptteil der immensen Arbeit haben leisten dürfen); von den Ureinwohnern dieser Landschaft hingegen erfährt man gar nichts, sie sind insgesamt kein Thema in den historischen Selbstinszenierungen des modernen Amerikas.



(2) Ein anderer, bemerkenswerter Ort, an dem man die Geschichte der USA buchstäblich anfassen kann, ist Williamsburg im Südosten Virginias. Begründet im 17. Jh. aus einer früheren Plantage ist ColonialWilliamsburg dank einer umfassenden Rekonstruktion durch die Rockefellerstiftung heute eine Art Bilderbuch-Siedlung, in der man den Zeitgeist der frühen nordamerikanischen (überwiegend britischstämmigen) Kolonisatoren Tag für Tag eins zu eins nacherleben kann. Das historische Zentrum lädt zu einer angenehm entschleunigenden Zeitreise ein: Statt der modernen Wohnhäuser stehen hier (nachgebaute) Siedlerhäuschen mit kleinen Gärten, in denen Gemüse und Zierblumen angebaut werden, statt Autos flanieren zwischen den Fußgängern (sic) schmucke Pferdekutschen auf und ab; und die kleinen Lädchen voller „historischer“ Erzeugnisse werden von handfesten Siedlerpersönlichkeiten in traditionellen Kleidern betrieben, wie man sie auch überall auf den sandigen Straßen und Plätzen antreffen kann – ob vor der Kirche, beim Markt, am Theater, an den Kanonen und Gerichtsplätzen oder auch bei der stündlichen öffentlich-feierlichen Verkündung der Unabhängigkeitserklärung mit Pfeifen, Trommeln und allerlei Tamtam vor dem kleinen alten Ratshaus der Stadt. Zum Glück läuft die Inszenierung dieses kleinen Geschichts-Disneylands sehr entspannt sowie recht (romatisch-historisiernd) geschmackvoll und weitgehend unaufdringlich ab, sodass der geneigte Spaziergänger diesem heiter-märchenhaften Spiel mit ein wenig gutem Willen einen durchaus angenehmen Tag unter der Sonntagnachmittagssonne Virginias abgewinnen kann… 

(3) An Geschichte ganz anderer Art und Weise wird am Montag, den 4. November 2014, in der Vereinigten Kirche (sie hat tatsächlich diesen deutschen Namen) in Washington D.C. gedacht. Ab 17 Uhr finden sich nach und nach Studenten und Professoren der nahen George Washington University ein. Es werden Kerzen verteilt und Banner an der Balustrade der Empore aufgehängt und dann beginnt eine ganz besondere Veranstaltung: Ein Friedensgebet zum Gedenken an die Leipziger Montagsdemonstrationen von 1989. Als einer von vier Augenzeugen berichte ich vor allem vom 9. Oktober 1989, danach sprechen der amerikanische und die deutsche Pastor/in dieser Einwanderergemeinde zweisprachig ein Gebet aus dem Herbst 1989. Und dann treten die Besucher dieses Friedensgebetes mit Kerzen und Transparenten tatsächlich hinaus auf die Straßen von Washington 2014, um durch den Regierungsbezirk Foggy Bottom hinüber zu einem Kunstzentrum auf dem verstreuten Campus der Universität zu ziehen, wo dieser erstaunliche Abend seinen lockeren Abschluss bei Fingerfood-Buffet und einer Fotoausstellung über den Berliner Mauerfall findet. Besonders beeindruckt bin ich von der Tatsache, dass hier einmal nicht die üblichen Mauergraffitis (die es auf der Ostberliner Mauer 1989 ja gar nicht geben konnte) oder der dämliche Versprecher des nicht an Pressekonferenzen gewöhnten SED-Schabowski  ("So viel ich weiß, gilt die neue Reiseregelung ab sofort...") im Mittelpunkt des symbolischen Gedenkens stehen, sondern die Washingtoner tatsächlich genügend Sachkenntnis über die jüngste deutsche Geschichte besitzen, an die entscheidenden Stunden von Leipzig zu erinnern, als der verzeifelte Mut der Vielen der SED für immer den Wind aus den Segeln nahm...

Einer der beteiligten Zeitzeugen an jenem Nachmittag ist Professor Peter Rollberg, einst Leipziger Demonstrant, seit 1990 Slawistik-Prof. in Washington, dem die amerikanische Hauptstadt u.a. das erste und einzige Puschkin-Denkmal verdankt. Er berichtet mir bei einem gemeinsamen Kneipengespräch am Abend, dass Puschkin in den Staaten vor allem unter den Schwarzen landesweit eine Legende sei - denn der berühmteste russische Dichter hatte afrikanische Vorfahren, derer er sich auch in seiner Dichtung rühmt.   
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Hinter den Washingtoner Aktivitäten steht jedoch vor allem Mary Beth Stein, eine umtriebige Deutsch-Professorin an der Fakultät für europäische Literatur und Sprachen an der GWU, in deren Seminar ich am nächsten Tag eine wunderbare Lesung aus meinen Büchern über 1989 halte - einer der Deutsch sprechenden Studenten stammt aus China und ist besonders davon angetan, wie sehr wir damals in Leipzig Bezug auf die Bewegung vom Tianamenplatz nahmen (und wie sehr uns die Angst vor einer "chinesischen Lösung" - sehr zu Recht - umtrieb).