Posts mit dem Label Erinnerung werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Erinnerung werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Donnerstag, 28. September 2017

LEBEN IST STIER SEIN (in memoriam Kito Lorenc)

oder was
 
leben ist stier sein
oder leben ist jungfrau sein
leben ist ständig vornean sein
um stier zu bleiben 
leben ist laufend hinterher sein
um nicht jungfrau zu bleiben

leben ist zu spät dran
leben ist zu früh dran
beides bestraft das leben
leben ist lieber gleichzeitig dran
ist löwe und reh
ist scheu wie kapital

leben ist schon vergessen haben
was alles gefressen
leben ist nicht alles gefressen haben
was schon vergessen
leben ist nicht alles
wenn auch einen vergleich wert

leben ist eine tautologie
mitten aus dem leben gegriffen
leben ist auch kartoffeln
in strümpfen zu haben
aber leben ist nicht amboß sein
leben ist ein hammer 



(Neujahrsgruß von Kito Lorenc aus den Nullerjahren)





Freitag, 15. Januar 2016

Kleine Erinnerung an Kurt Masur

Dem legendären Dirigenten bin ich mehrfach bei irgendwelchen öffentlichen Anlässen im Leipziger Gewandhaus begegnet, doch es kam niemals weiter als zu einem höflichen Händedruck in offiziöser Runde von Kulturhonoratioren.
  Einmal aber rief eines dunklen Winterabend (es war, denke ich, Ende 2006) später am Abend jemand bei mir an und sagte mit tiefer, ruhiger Stimme "Hier ist Kurt Masur." - Woraufhin ich geistesgegenwärtig antwortete: "Und hier spricht Albert Einstein." und auflegte.

... kaum eine Minute später klingelte das Telefon wieder durch die stille Wohnung und die gleiche ruhige Stimme meldete sich: "Hier spricht wirklich Kurt Masur und ich möchte mit Ihnen über Ihr Leipzigbuch sprechen."  Ich war baff, er war es tatsächlich. Er rief von irgendwo aus den USA an, wo er gerade gastierte und hatte über den Buschfunk seiner Leipziger Bekannten von meinem Vorhaben gehört, mit einem Sachbuch über den 9. Oktober 1989 die Diskussion um die "Friedliche Revolution" und die Rolle Leipzigs um einige mir wichtige Aspekte zu ergänzen - etwas, wozu er mich ausdrücklich ermutigte und worüber ich nun für etwa eine halbe Stunde mit Kurt Masur diskutierte. Wir waren uns weitgehend einig in der Bewertung dieser Sache und selbst bei der Feststellung, dass der von Masur initiierte "Aufruf der Leipziger 6" von jenem Tag äußerst wirksam und hilfreich, aber keineswegs die Ursache für den geradezu unfassbar glücklichen Ausgang dieses Tages und seine weiteren Folgen war ... (siehe auch: "Der Tag, der Deutschland veränderte".) Was für ein kluger und sympathischer Mann auch jenseits seiner musikalischen Verdienste, dachte ich damals.

Das letzte Mal, dass ich ihm begegnete, war zu einer offziellen Jubiläumsfeier am 9. Oktober 2009 im Gewandhaus. Masur sollte zu Beginn der Zeremonie (es sprach Bundespräsident Köhler, die Kanzlerin war anwesend) den musikalischen Auftakt mit dem Gewandhausorchester dirigieren. Weil das Podium anders als üblich mit allerlei Zubehör bestückt war und er neben den Ehrengästen in der ersten Publikumsreihe saß, musste Masur für seinen Auftritt von der Seite über eine schmale Treppe ohne Geländer hinaufsteigen. Der alte Meister (damals immerhin schon 82) strauchelte beim Hinaufsteigen, es gab plötzlich einen fürchterlich lauten Schlag und Kurt Masur war verschwunden - neben der Treppe in den Orchestergraben gestürzt.
  Für einige lange Sekunden war es in dem voll besetzten Gewandhausrund (1700 Plätze) plötzlich ganz und gar still - man konnte alle ein und denselben erschrockenen Gedanken denken sehen "Ist er jetzt tot?" ... Noch wagte niemand sich zu rühren, da rief eine tiefe, ruhige Stimme irgendwo aus dem Orchestergraben laut und fast fröhlich: "Alles in Ordnung. Nichts passiert!"  ...
  Masur dirigierte damals seinen Beethoven so innig wie eh und je (erst später stellte sich heraus, dass irgendetwas an der Hüfte gebrochen war und Masur sich für einige Zeit schonen musste) und weil Präsident Köhler anschließend eine teilweise fragwürdige Rede hielt, die für Aufregung und große Diskussionen unter den geladenen Gästen sorgte, vergaßen die meisten den Zwischenfall mit dem Sturz des Meisters in den Orchestergraben an jenem Tag. Auch ich selbst erinnerte mich erst bei der Nachricht vom tatsächlichen Tod des Meisters im Dezember 2015 wieder daran.
  Kurt Masur war ein großer Musiker, ein bravouröser und souveräner Verwalter eines musikalischen Welterbes, und er wusste ganz genau, dass er es war. Aber er war menschlich vollkommen unprätentiös und von dem Wunsch beseelt, seinen Ruhm zum Wohl der Allgemeinheit zu nutzen. Das hat mich wirklich beeindruckt, vielleicht sogar noch mehr, als die vielen wunderbaren Konzerte, die ich ihn dirigieren hörte und in denen ich nie einer Partitur bis zum Ende folgen konnte, weil mich die Musik jedes Mal zu tief in einen Gedankenstrudel zog, der mich alles um mich herum vergessen ließ...

PS fun fact: Während am Abend des 9. Oktobers '89 in Leipzig die wichtigste - natürlich illegale - Demonstration in der Geschichte der DDR um den Leipziger Innenstadtring zog, die schließlich das Ende der SED-Diktatur besiegelte, wurde über den Stadtfunk der Aufruf der Leipziger 6 in die Straßen übertragen. Ich saß im Auge des Orkans im Altarrraum der völlig überfüllten Nikolaikirche und spielte für die um ihre Zukunft bangenden Leute meinen Song vom "Frischen Wind" und anderes mehr - während Kurt Masur im Gewandhaus planmäßig Till Eulenspiegels lustige Streiche von Richard Strauss dirigierte...


 
  

Montag, 13. April 2015

Kurze Erinnerung an Günter Grass

Als ich im Sommer 2003 als Gastdozent neueste deutsche Literatur in Jakarta/Indonesien unterrichtete, fragten mich, als die Rede auf Günter Grass kam und ich im Präsens von ihm sprach, die dortigen Germanistikstudenten ein wenig überrascht: "Lebt der denn noch?"
  Für sie war der deutsche Nobelpreisträger ein ferner Klassiker aus einer anderen Epoche (eben der vor 1989 - und literarisch stimmt das ja auch selbst für seine nach 1989 erschienenen Bücher) ...


Eines Frühjahrs durfte ich an seinem alten Schreibtisch, an der er Jahre zuvor seinen Großroman "Die Rättin" geschrieben hatte, als braver Literaturstipendiat meine kleine "Mäuse"-Novelle tippen... Die Lesepremiere fand vor versammelter nordelbischer Dorfbewohnerschaft in der frisch renovierten alten Holzküche des Döblinhauses zu Wewelsfleht statt, in der einstmals all die berühmten Butt-Rezepte ausprobiert worden waren und Grassens echte Rättin (sic!) nebst ihrer Nachfahren die Dielen so sehr zernagt hatten, dass sie eben komplett renoviert werden musste... Das wunderbare, handgeschnitzte bäuerliche Holzhaus am Elbdeich war ja bis 1985 von der Familie Grass bewohnt worden; bis dann 5 km weiter das Kernkraftwerk Brokdorf gebaut wurde - da schenkte Grass das Haus der Berliner Akademie der Künste für deren Stipendiatenprogramm für verhärmte Großstadtdichter und zog mit seiner Familie fort. Der Nussbaum, den Grass angeblich zur Geburt seiner Tochter Helene dort im Garten gepflanzt hat, beherrscht heute in aller Pracht das Grundstück und tritt übrigens auch in meinem Gedicht "sängerkrieg" (siehe "sekundenbuch", S. 97) eine Strophe lang auf:
  ...
      vor meinen fenstern hebt
      der nussbaum seine siegeräste
      in seinen zweigen verglüht
      feierlich breit der abend

 ...
(Natürlich ist es zum Verständnis des Gedichtes völlig unerheblich, welcher Nussbaum mir beim Schreiben in realo vor Augen stand... aber hier sei es passenderweise erwähnt.)

Später geriet ich zu einer Jubiläumsveranstaltung des Döblinhauses in der großen Mehrzweckhalle hinterm Elbdeich mit ihm diskutierend aneinander, als ich ihn aus gegebenem Anlass spontan öffentlich bat, nicht immer so westonkelig für "die Ostdeutschen" zu sprechen, wir könnten ganz gut für uns selbst sprechen und dächten desöfteren was ganz anderes als er der Welt weismachen wollte, das wir dächten... Eiei, das fand er nicht witzig und war für ein paar Stunden echt eingeschnappt. (Thema des Forums war "Literatur und Politik" gewesen und wir jüngeren Autoren hatten auch dazu teilweise doch recht andere Meinungen als der alte Meister.) Zum Glück ist seine Frau Ute eine Arzttochter von Hiddensee, sodass sie mich als gebürtigen Greifswalder ansprach und wir am Ende des Tages und Abends dann doch wieder halbwegs einträchtig beieinander saßen. (Siehe Foto. Das war übrigens kurz vor dem "Häuten der Zwiebel"-Skandal seiner verschwiegenen SS-Mitgliedschaft, er hatte das entscheidende Interview dazu schon gegeben, aber es war noch nicht erschienen und ging erst in der Woche danach hoch.)

In ein, zwei Sätzen kommentiert (d.h. lobt) er übrigens in seinem Roman "Ein weites Feld" auch all die literarischen Erzeugnisse aus meinem heutigen Wohnhaus in Berlin - indirekt, indem er es "Fonty" sagen lässt...

Jetzt ist er verstummt, der streitbare Zausel. Und Oskar Matzeraths Stimme gellt uns für immer in den Ohren.



(c) Foto: Peter Wawerzinek

Montag, 30. Juni 2014

Kleine Erinnerung an Christian Führer (Leipzig, Nikolaikirche)

>> ...

Christoph Freier fragte nicht, (...) was wir wollten. Hörte zu, mit unbewegtem Gesicht. Lächelte, nur mit den Augen. Er erklärte uns, was ein freies Gebet war. Jeder der Anwesenden konnte ans Mikrophon treten und eine Bitte äußern, einen Gedanken. Und dann sangen alle eine Antwort, einen Refrain. Eine gesegnete Form der Nachrichtenübertragung. In wenigen Minuten erfuhr man mehr Neues, als in jahrelangem Studium an der Arbeiter-und-Bauernfakultät, als in der umfassend informierenden Volkszeitung, im volksnahen Republiksfernsehen, im objektiv berichterstattenden Wahrheitsradio. Unerhörte Nachrichten aus der Welt jenseits des Heftchenrandes.
  Montag für Montag füllte sich das Kirchenschiff.
  Dreihundert Leute, schätzte Freier. Fünfhundert. Achthundert.
... << 
(aus: "Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung", Roman, M.J. 1999) 

                                 In memoriam Christian Führer, geboren 5. März 1943 in Leipzig, gestorben 30. Juni 2014 ebenda.

http://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Führer