Samstag, 11. Februar 2012

Die griechische Tragödie (1)


Ankunft in Thessaloniki, 8. Februar, früher Nachmittag. Der blitzend moderne Flughafen ist merkwürdig still. Während zeitgleich in Athen die europäischen Bosse um das ökonomische Schicksal des ägäischen Staates verhandeln, herrscht hier völlige Totenstille. Erst gestern lähmte ein Generalstreik das ganze Land und der wütende Mob der unteren Zehntausend verbrannte tanzend deutsche Fahnen auf der Straße der Hauptstadt. Hier hingegen ist jetzt alles unwirklich sauber und leer. Es ist nasskalt, knapp über Null schätze ich, gegen die knackige klare Kälte Berlins ist das hier unangenehm. Nebenan hat in einer Halle ein Kiosk geöffnet, die Sandwiches sind frisch, aber innen gefroren. Ein belegtes Baguette kostet knapp 5 Euro, eine einstündige lokale Busfahrt 80 Cent. Unterwegs sehen wir kaum Leute, aber  jede Menge leere Läden und neue Gebäude. Der Großteil von Thessaloniki besteht offenbar aus eng beieinanderstehenden Neubauten. Doch auch wo Licht brennt in den Läden - kein einziger Kunde zu sehen. An den vielen Ticketschaltern im riesigen Überland-Busbahnhof selbst zur Rush-Hour kaum Kunden. Alles ist beängstigend ruhig.
  Dann die Autobahn entlang der Küste nach Südwesten. Das Meer sehen wir nicht, alles ist diesig und in blendendes Grau gehüllt. Außerhalb der Stadt ein unbekanntes Griechenland: Weite, schneebedeckte Ebenen in dichtem Dunst. Auf der Autobahn so gut wie keine Autos, es gilt Mautpflicht. Die dreispurige Straße gehört stundenlang ganz uns, hin und wieder auf der Gegenseite ein anderer Bus, ansonsten kilometerweit grauweiße Weite und Leere. (Auf unserer Seite jedoch streckenweise leuchtende Straßenlaternen.) Ich rede mit Alan über eine Fahrt nach York und habe plötzlich das Gefühl, irgendwo durch Nordengland zu fahren. Auch die wenigen Bäume im Dunst an den Straßenrändern sind blattlose Laubbäume, kaum Pinien. Vielleicht verschwindet die mediterrane Pflanzenwelt auch einfach unter dem Schnee und der macht die Mitte der griechischen Provinz zur ganz gewöhnlichen mitteleuropäischen. Linkerhand im letzten Abenddämmer eine alte Burg auf einem Doppelhügel, umgeben von Nadelbäumen, es wird bergig und das könnte jetzt auch Thüringen sein. Alan sagt, wir kämen in die Nähe des Olymps. Die Bordanzeige des Busses meldet 4 Grad plus. Dann wird es rasch dunkel und wir sehen nur hin und wieder die Streulichter der Orte und Städte, die wir passieren.
  Als wir in Volos ankommen, ist es dunkel: 6 Grad, Nieselregen. Später, in der neonhellen gekachelten Innenstadtpinte, trinken wir in großer Runde den ortsüblichen Anisschnaps namens Tsipouro aus kleinen Fläschchen und essen den Abend über zig kleine Gänge aus tausenderlei Meeresfrüchten und lokalen Köstlichkeiten. Neben den Griechen sind auch die Leute von Zypern gekommen, die Italiener sind da (Cristina, wiewohl Italienerin,  gilt als Deutsche, weil sie zu mir gehört) und die Katalanen kommen zu viert. Als es allmählich lauter wird an der langen Tafel, sagt der gute alte Englisch-for-you-Alan: „Martin, ich fürchte, wir zwei sind die einzigen Nordeuropäer. Wir sind die Nordis, die anderen die Südis.“ Haha, das stimmt wohl - und fühlt sich ganz gut an. Im Fernsehen über dem Tisch besiegt die Basketballmannschaft von Olympiakos knapp das Türkenteam von Efes Pilsener. Anastasia aus Volos, die neben mir sitzt, meint irgendwann, nachdem der Smalltalk über die Familie beendet ist, in Griechenland verbrennten sie jetzt deutsche Fahnen, aber in Deutschland brächten die Nazis immer noch Fremde um. Ich solle entscheiden, was schlimmer wäre. Tja. Themenwechsel zum Wetter, oder?
  Später am Abend beginnen die alten Männer am Nachbartisch zu Akkordeon und Gitarre lauthals mehrstimmige griechische Volkslieder zu singen. Wer will, stimmt ein, die andern quatschen und lachen weiter. Der Wirt und die Köchin singen während der Arbeit mit. Quittungen werden in jeder gewünschten Höhe ausgestellt.

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