Die
Löwen im Zoo von Sydney kennen weder Langeweile noch schlechte Laune. Zwar
leben sie nicht in Freiheit, doch wem es so gut geht wie ihnen, dem kann die Freiheit
schnuppe sein. Den Löwen von Sydney geht es ausgezeichnet dank eines wunderbaren
Spiels, das sich ihre Pfleger für sie ausgedacht haben. Das Spiel geht so: Löwe
liegt faul im Gras und glotzt Menschen. Pfleger kommt, um dem
Löwen Futter zu bringen. Statt ihm die Brocken in mundgerechten Happen vors
Maul zu schieben, hängt Pfleger es an ein Zebra. Das ist aus Holz und kann
dank eines ausgeklügelten Mechanismus’ bewegt werden. Der Löwe hebt den Kopf.
Als sich das Holzzebra mit den angehängten Fleischbrocken in Bewegung setzt,
startet auch der Löwe. Mit einem langen, überraschend wilden Sprint und einem
kühnen Satz erlegt er den tiefgekühlten Fleischklotz! Und kaut nun vergnügt an
seiner Beute, er hat sie ja selbst erlegt. Glücklicher Löwe,
glückliche Pfleger. Glückliche Zoobesucher! Vor dem Gehege erklären Experten in
begeisterten Wortkaskaden aller Welt live und in Farbe das faszinierende Geschehen.
Die Farben jenes Holzzebras im Zoo von Sydney jedoch gleichen
verblüffend denen eines klassischen Fußballs. Auch sonst gibt es Parallelen.
Ein schönes Spiel, inszeniert von fürsorglichen Pflegern, um gelangweilte Allesfresser
bei Laune zu halten, denen es im gitterfrei abgesicherten Kunstbiotop an
Gelegenheiten mangelt, ihre ursprünglichen Instinkte auszuleben. So kann man jede
Menge Zuschauer und Experten beschäftigen, die sonst auf andere Gedanken kämen.
Ich gestehe: Mir fehlt das Zebra-Gen. Ich
gehöre zu den traurigen Löwen, die nicht mal den Kopf heben, um dem Holzzebra
hinterher zu blicken. Ich träume stattdessen davon, wie ich hier raus und an
frische Antilopen ran komme. Oder wenigstens an die Pfleger. Mir war von klein auf ein Rätsel, wie man sich
länger als ein paar Minuten für Fußball begeistern kann. Spätestens nach einer
halben Stunde auf dem Bolzplatz hinter der Schule, wenn absehbar war, dass die
anderen bis zum Einbruch der Dunkelheit weitermachen wollten, schwante mir,
dass diese Jungs keinen Schimmer hatten, was sie mit dem Nachmittag anfangen sollten,
sobald der Müll runter gebracht und die Hausaufgaben gemacht wären. An
guten Tagen: Fußballgucken vielleicht. Ich hatte nach einer halben Stunde
Beschäftigungstherapie stets genug - und verbringe seither ein stillvergnügtes Leben
als Versager und Spinner, der von den wichtigen Dingen dieser Welt keine Ahnung
hat.
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Wie das Holzzebra für die Löwen, ist der
Fußball unsere Erlösung vom Dahindämmern im demokratisch marktwirtschaftlichen Freigehege. Im Fußball kommt zusammen, was den
europäischen Zeitgeist ausmacht: Geld, Ordnung, Leistung. Technik, Mode, Bier. Glaube,
Liebe, Diskurs. Hoffnung. Bockwurst, Pharmaindustrie. Werbung. Viele einander
scheinbar widersprechende Konzepte. Und neuerdings sogar Kultur. Das ist auch der Grund,
weswegen die Spinner und Versager an den Universitäten und in den Schreibstuben
nun so eifrig mitfiebern wollen: Sie konnten nicht länger ertragen auf dem Schulhof
nicht mitreden zu können, wenn die richtigen Jungs mit glänzenden Augen von Treffern
und Trefferchancen berichteten! Die Luschen, die nach einer halben Stunde schon
den Bolzplatz verlassen hatten, konnten nur von Büchern erzählen, vom
Konservatorium und dem Museum, von Malkursen oder der langweiligen Baumpflanzaktion am Rande des Neubaugebiets. Grau, teurer Freund, ist
alles, was nicht bolzt. Doch grün des Fußballs goldner Rasen! Nun wollen sie doch
noch wie die echten Jungs sein und tief in sich endlich auch das Ballfieber fühlen.
Deshalb schreiben sie Bücher mit Gedichten über die Abseitsregel, komponieren Torjäger-Opern,
veranstalten massenkompatible Philosophiekongresse über Spieleraufstellung
und Unterbewusstsein und züchten Moleküle in Fußballform. Achtung: Auf dem Schulhof
reden jetzt auch die Spinner und Versager über Fußball! Allerdings stehen sie in der Pause immer
noch abseits und bleiben unter sich.
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Dass
erwachsene Menschen sich vollkommen zum Klops machen, wenn es um Fußball geht,
gehört zur europäischen Kultur des neuen Jahrtausends. Nicht nur, dass Leute
mit Abitur und doppeltem Hochschulabschluss sich stundenlang das dauerredundante Gesülze von
den Geistesgiganten der Sportjournaille anhören - sie bezahlen sogar begeistert Gebühren dafür! Zu den rätselhaften Eigenschaften des
Phänomens Fußball gehört, dass auf einen aktiven Spieler mindestens eintausend
passive kommen, die Fans. Inbegriff des Fußballfans ist für mich bis heute mein einstmaliger Schulbanknachbar Heiko M. Der schwärmte seit frühester Kindheit für Rot-Weiß Erfurt. Durch
sein Fantum hatte Heiko, wie er mir
anvertraute, wahre Freunde gefunden. Jeden Samstag fuhr er mit Horden seiner wahren
Freunde zum Spiel. Wobei ein artgerechtes Habit und das instinktive Beherrschen
ritueller Gesänge oberstes Gebot waren, ohne die an der erlösenden Pilgerfahrt
niemand teilhaben konnte. Immer kam Heiko glücklich aus dem Wochenende zurück
und hatte Erzählstoff für eine ganze Woche. (Wobei das Thema klar war,
bevor er den Mund auf machte. Deshalb galt Heiko, im Gegensatz zu mir, auch nie
als komplizierter Mensch.) Wenn Heiko glücklicher als sonst zurückkam, hatte es
Prügeleien gegeben und sie hatten es den Jenaern oder wenigstens den Bullen ordentlich
gezeigt. Einmal sagte Heiko: Wenn es Rot-Weiß nicht gäbe, wäre mein Leben sinnlos.
Ohne Fußball würde ich mir glatt einen Strick nehmen. – Und schon sind wir bei
der Lösung des Rätsels, wie es kommt, dass eine so hoch entwickelte Kultur wie
die deutsche den Fußball auch oder gerade in schwierigen Zeiten mit einem Verve,
Aufwand und Etat fördert und feiert, dass es eine Art hat: Der Fußball
verhindert, dass Institutionen wie die Dignitas oder die Hamas die Geschicke
unseres krisengeschüttelten Landes bestimmen! (Fußball ist so einfach, wenn
man’s einmal verstanden hat. Das macht dieses Spiel attraktiv selbst für
Leute, die sich sonst nur ungern unter größere Menschenmassen mischen.)
Einmal durfte ich, trotz meines Desinteresses
an den wirklich wichtigen Dingen des Lebens, aus dienstlichen Gründen selbst in den Dienst
der großen Ereignisse treten. Der Direktor eines internationalen Festivals
bat mich, herzhafte Sprüche über den Fußball in den Werken großer Dichter zu finden,
und diese zwecks Werbung für sein weltbewegendes Literaturevent während der großen Spiele auf den Stadiontafeln
einer deutschen Metropole zu präsentieren. Ich weiß nicht genau, was die großen
Dichter und die Leute in den Stadien dachten, als die (oft noch aus dem Zusammenhang
gerissenen) großartigen Sätze über die faszinierendste aller Sportarten nach
jedem Treffer auf der Stadiontafel auftauchten. Auf jeden Fall aber war mein Chef
hochzufrieden über den zeitgeistgerechten Werbegag. Eines weiß ich jedoch: Es
gab viele literarische Zitate über den Fußball! Aber keines, das man ohne rot
zu werden auf einer Stadiontafel zeigen sollte. Nichtsdestotrotz quellen auch heuer die Blogs und Zeitungen über von massenerregter Fußballtiefenphilosphie, Analysen, Vorhersagen und wütenden Diskussionen über Mutmaßungen. Die Dichter und Denker kommen aus allen Ecken! Yogi Löw rettet uns.
Und die Löwen im Zoo von Sydney? Die sind
derzeit gut aufgestellt! Sie sind zuversichtlich was das nächste Zebra angeht
und gesundheitlich in absoluter Topform. Sie machen sich zu recht Hoffnungen auf den Sieg und die Mehrheit der Zoobesucher favorisiert sie
als die Gewinner der Saison. Die Pfleger schließen heimlich Wetten ab, welcher
Löwe das Holzzebra als erster erlegt bei der nächsten Fütterung.
Von Griechenland blieben Amphitheater, von den alten Römern Gladiatorenarenen. Von uns das Stadion auf Schalke. Aber: Was machen eigentlich die Löwen in der Serengeti?*
Von Griechenland blieben Amphitheater, von den alten Römern Gladiatorenarenen. Von uns das Stadion auf Schalke. Aber: Was machen eigentlich die Löwen in der Serengeti?*
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*(Und stimmt es, dass die
Afrikanische Union plant, dort ein Fußballstadion zu errichten? Das wär’s doch,
oder?)
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