Am Samstagmorgen lassen
wir den lokalen Farmer’s Market aus und gleiten nach einem ruhigen Frühstück mit Johns und Marcels silbergrauen Hundai durch das schöne Virginia hinunter
nach Charlottesville. Die Straßen sind zumeist dreispurig und es ist schwer
auszumachen, wo die Stadt endet, denn überall gibt es noch Shopping Centers,
Oulets oder Elementary Schools: Das all dies auf der grünen Wiese steht, scheint
kein Problem zu sein – hier muss sowieso jeder Auto (oder notfalls Bus) fahren.
Dann werden die Häuschen kleiner und hölzerner, überall zwischen den Wiesen und
Wäldchen wohnen Leute. Was noch viel erstaunlicher ist: Ringsum überall ist der
Rasen gemäht. Dies ist ein gut eingerichteter Planet: Ganz Virginia ist mit
schönem kurzen Grünrasen bedeckt! Auch am Wald. Keine Wiesenblume, keine
Grasrispe im Wind – dafür hier und da Grundstücksbesitzer auf ihren winzigen
Rasenmähertraktoren sowie ab und zu Pferde oder Kühe auf kleinen Anwesen mit
kleinen Holzhäuschen und großen Autos davor. (Obwohl: es fällt schon auf, dass
inzwischen sehr viele asiatische und etliche europäische Mittelklasse- und
Kleinwagen auf den Straßen der Ostküste unterwegs sind; auch Mercedes, VW und
sogar die kleinen Fiats Cinquecento sieht man öfters.) Wir fahren vorbei an
etlichen Battlefield Sites, wo
Ausflügler des amerikanischen Unabhängigkeits- ebenso wie des Bürgerkriegs gedenken und wo alljährlich mit großem Tamtam die legendären Schlachten heute von Hunderten
verkleideter Freiheitskämpfer nachgespielt werden – unter Anteilnahme
aller Geschichtsversessenen der gesamten Nation. Die Schlachtfelder sind heute nicht
viel mehr als grüne Wiesen auf Hügeln mit Gedenktafeln (und selbstverständlich weithin
gestutztem Rasen). Die Straße führt in freundlichen Kurven hinab in den
Südwesten, die Hügel und Wälder erinnern deutlich an Thüringen: Im Hintergrund
erheben sich (gleich dem Thüringer Wald) die bewaldeten Rücken der Blue Ridge Mountains, hinter denen man
hier und da auch das Tal des Shenandoa Rivers
erahnen kann (jaja genau: Dort beginnen die CountryRoads von West-Virginia…).
Der thüringische Eindruck verstärkt sich, als
wir uns nach anderthalb Stunden nahe Charlottesville dem Monticello-Anwesen von Thomas Jefferson nähern. Wir stellen das
Auto ab und schauen uns im hölzernen Infocenter zunächst einen kurzen Film über
Jefferson an, von dem wir unter großer Musik in sanftgoldenen Bildern erfahren,
dass er es war, der die Gleichheit der Menschen und den „Pursuit of Happiness“
aus tiefster Überzeugung in den Entwurf der amerikanischen Verfassung
geschrieben hat – etwas, das durchaus hollywoodreife Bilder und große Musik
rechtfertigt. Und auch, wenn dieser Unabhängigkeitskämpfer und zweimalige
Präsident es selbst nicht geschafft hat, seine vielen Landsklaven (deren
stein- und namenloser Friedhof heute übrigens zwischen parkenden Wohnmobilen auf dem Touristenparkplatz
liegt) freizulassen, so hat er doch heimlich mit einer seiner Haussklavinnen
einige Kinder... Also wandern wir auf seinen Spuren unter großen amerikanischen
Eichen über einen Wanderpfad einen Berg hinauf, der uns vorbei an einem kleinen
umzäunten Wiesen-Friedhof auf eine Anhöhe führt. Vom Gemüsegarten (mit seiner
rötlichen Erde, den Kräutern, Artischocken- und Tomatenstauden) aus hat man einen herrlichen Blick über das
Land; Schautafeln und kleine Nebengebäude
erklären das Landleben auf dem Wohnsitz des einstigen US-Präsidenten. Umstanden
von weitausgreifenden, großen Bäumen liegt auf einer blumenumwachsenen Wiese
ein roter dreiflügeliger Wohnbau mit einer repräsentativen Kuppel, eine Art
Mini-Sanssouci im ländlich britischen Stil, mit Veranden, Pavillons und
Kübelpflanzen ergänzt, ein wirklich angenehmer Bau an einem wunderbaren Ort.
Wir umstreifen das Haus, lesen hier und da die Tafeln und schauen uns die
Arbeitsräume der Sklaven an (Kinder dürfen am Bastelstand Jefferson-Figuren
ausmalen) und würdigen Jeffersons vortreffliches Gespür für eine angenehme
Lebensführung. Wir schauen und genießen ohne viele Worte den heiteren Tag und
rascheln im rotgelben Laub des milde beginnenden Herbstes.
Im
Café müssen wir uns dann allerdings mit Sandwiches begnügen und Marcel wundert
sich, dass ich tatsächlich mein Root-Bier (eine lokaler Monticello-Softdrink
aus Wurzeln und Baumrinde, geschmacklich eine Art Hustensirup mit Kohlensäure)
austrinke, dabei ist es nichts als eine Kindervariante des bayerischen
Bärenblutschnapses… Später schlendern wir noch durch die Innenstadt von Charlottesville, wo es eine der
seltenen amerikanischen Fußgängerzonen gibt. Was auffällt: In den hiesigen Innenstädten
gibt es sehr viele Antikshops und Edel-Trödler, darunter auch sehr attraktive
Buchantiquariate. Marcel meint, die großen Ladenketten seinen hier absichtlich
für die Innenstädte verboten; und Antikläden u.ä. seinen besonders gut
geeignet, Leute in die Innenstädte zu locken, da man bei denen ja nie wüsste,
was sie anbieten – also kommen und stöbern muss. Wir haben jedenfalls
tatsächlich viel Vergnügen beim Stöbern. Gegen Abend fahren wir dann gemächlich
zurück Richtung Atlantik nach Fredericksburg und gehen dort in einem Diner
Abendessen, das „Mason Dickson“ heißt – nicht nach den Romanhelden von Thomas
Pynchon, sondern nach der Vermessungslinie, die die beiden nördlich von hier
einst festgelegt haben: Die dünne Linie, an der sich „der Norden“ und „der
Süden“ der USA trafen und treffen. (Auch deshalb wurde diese Gegend zum
historischen Grund – die beiden Parteien des amerikanischen Bürgerkriegs trafen
an dieser Linie aufeinander.)
Übrigens: So lange ich nur schaue, und nicht
jemand mit kaum verständlichem Akzent minutenlang in maschinengewehrartiger
Geschwindigkeit auf mich ein redet, fühle ich mich hier kein bisschen fremd.
Alles sieht aus, wie zuhause, selbst der Tinnef der Straßenhändler ist ungefähr
derselbe wie in Santiago, Manchester oder Yogyakarta. Das ist der
Virginia-Effekt: Immer wieder erscheint mir alles hier auf den ersten Blick
sehr vertraut; die Städtchen etwa wie eine Mischung aus englischer Provinz und
dem hügeligen Süden Ostdeutschlands - und auch die Natur, die Pflanzen, die
Tiere, muten scheinbar bekannt an. Erst wenn man die Details genauer betrachtet,
stellt man fest, dass hier vieles doch sehr anders aussieht, riecht, schmeckt, klingt
und funktioniert. Das ist also der amerikanische Trick, mit dem man arglos ins
Unbekannte gelockt wird.
Am nächsten Morgen frühstücken wir zeitig und
deftig (Johns Feta-Spinat-Omelette ist ein Gedicht) und fahren dann mit dem
Auto hinauf ins sonntäglich stille Washington: Die Männer besuchen Johns Mutter
in der Nähe, aber vorher laden sie mich – nach einer geschungenen City-Highway-Ehrenrunde
um das Washington Memorial, das Pentagon, das Lincoln Memorial bis zum
Holocaustmuseum - am nationalen
Reagan-Airport ab, denn für mich ist es Zeit, in den Südwesten nach Colorado
weiterzuziehen. Es ist sonnig, aber windig und kühl… Im Flughafen geht alles
wortlos und rasch, nur ich falle auf, weil ich die allgemeinen Gepflogenheiten
nicht genau kenne (weil ich brav deutsch auf Anweisungen des Personals warte, die aber nicht kommen); aber alles wird gut und bald schon schlummere ich friedlich
in meinem Flugzeugsitz nach Houston, Texas. Dort habe ich nur eine halbe Stunde
Zeit, meinen Anschlussflug zu finden und zu erreichen, aber auch das ist kein
Problem, alles ist hier wohlgeordnet und, nun ja, idiotensicher organisiert und obwohl der
Flughafen riesig ist und ich mit einer Schienenbahn zwischen den Terminals
wechseln muss, läuft alles ganz entspannt – dies ist definitiv ein großes Land
und Binnenflüge sind offenbar kaum mehr etwas anderes als technisch erweiterte
Fernbusreisen.
Vor der Landung in Colorado Springs wird mir beim
Blick aus dem recht kleinen Flieger der Kontrast klar: Draußen dehnt sich eine
ausgedörrte braune Ebene, hier und da graue Häuserdächer und weiße Flecken wie
Salzpfannen. Breit und dunkel wie Graphit über dieser endlosen Weite dehnt sich
hinten eine mächtige Bergkette unter der Sonne über den gesamten Horizont: Die
Rocky Mountains ziehen herauf. Wir sind 2000 über dem Meeresspiegel, Land und
Luft sind klar und trocken wie Zunder. Oben
auf den Berggipfel kann man schon den Puderzucker des Schnees erkennen. Ehe ich mich noch
wundern kann, wie einfach der Flug doch insgesamt war, haben mich im
weitläufigen Flughafengebäude mit seinen tausend runden Buchten und Fluren
Teresa und Wolfgang entdeckt und begrüßten mich wie einen familiären Gast (das
tut in der Fremde doch recht gut). Mit dem Auto, ohne das man in dieser weitläufigen
Stadt (mehr als 40 Kilometer in der Breite, meint Teresa) verloren ist, fahren
wir hinüber zu ihrem Haus, das sich neben einer Hauptstraße wie ein Cottage
hinter ein paar Bäumen versteckt, auf denen graue Squirrels ihr Unwesen treiben. Hier ist alles horizontal und weit,
als hätte jemand mit dem Photoshop-Cursor die gesamte Realität in die Breite
gezogen! Auch in Wolfgang und Teresas Haus ist sehr viel Platz (ca. 600 qm für
zwei), es gibt eine lichtdurchflutete amerikanische Küche mit riesigem Kamin,
einen Partykeller mit Schach, Billard und sportlichen Foltergeräten, und in der oberen Etage bekomme
ich ein geräumiges Zimmer mit Bad und eigener Kleiderkammer. Später fahren wir
Downtown zu „Poor Richard“, um in seinem gemütlichen Café mit angeschlossenem Buchantiquariat (mit Extraregal "local poets", wow) etwas zu trinken und
Pizza zu essen, für die man sich die Belagzutaten einzeln und für jedes
der gigantischen Sechstel anders zusammenstellen kann. Es gibt viel zu erzählen und zu
diskutieren: Anders als die „typischen“ Amerikaner brennen Teresa und vor allem
Wolfgang darauf mit mir über Politik, Geschichte und Kultur zu debattieren –
all die Themen, die man hier normaler Weise eher erst dann offen anspricht, wenn man
sich sehr gut kennt und vertraut. Ich erfahre,
dass mein Programm an der University of Colorado morgen mit zwei interessanten Terminen beginnt: Mittags ein Arbeits-Lunch
mit einigen versammelten Dichtern, Denkern und Professoren der Stadt, die derzeit
versuchen, hier ein European Studies
Departement zu etablieren und abends dann ein Poetry Reading mit Dozenten und
Studenten – in einer alten Farm hinter dem Universität-Campus, auf der es auch
Klapperschlangen gibt.
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