Samstag, 25. Oktober 2014

Amerika 4 - Dreizehnter Stock oder Die Politik des Raumes


Mr Keith Warner lehrt Soziologie an der Uni von Colorado Springs und lud mich ein, in seinem Seminar über "große soziale Umbrüche" von 1989 zu erzählen (und wie es uns Ossis damit erging). Teresa musste mich aus dem Seminar holen, denn es war Zeit für eine Verabredung mit ein paar netten Leuten in einem europäischen Restaurent mit hervorragendem Essen. Die Lesung am gleichen Abend auf dem Campus fand vor zweisprachigem Publikum statt und auch wenn das Publikum den Hörsaal nur locker füllte, war es doch das erste Mal, dass ich danach standing ovations erlebte. Die Herzlichkeit und aufmerksame Zugewandtheit der Anwesenden überraschte mich durchaus. Danach gingen wir bald zu Bett, denn am nächsten Morgen brachte mich Teresa schon gegen sechs zum Flughafen. Im üblichen Reisekoma gelangte ich mit einem geruhsamen Lokalflug nach Chicago, wo ich eine Stunde Zeit zum Umsteigen hatte und rasch einen amerikanischen Lunch "hatte" (d.h. ein dickes Beef-Sandwich und große Cola mit gaanz viel Eis). Eigentlich dachte ich von Chicago gar nichts sehen zu können, aber beim Take off flogen wir bei bestem Wetter in weitem Bogen über die Stadt und ich sah unter mir eine angenehm wimmelnde Skyline auftauchen, deren Wolkenkratzer in einem Distrikt am Ufer des großen blauen Sees (Lake Michigan) kulminierten und irgendwie einen heiteren und einladenden Eindruck machten. (Leider war die Kamera in diesem Moment unerreichbar verstaut.) Dann waren wir auch schon über dem riesiegen See und ich sah weit unter mir kleine Herden von Schönwetterwölckchen dicht über den See hasten und dabei kleine Schatten auf die gekräuselte Oberfläche des Wassers werfen: Sie hatten es offenbar eilig, dort unten in Hunderten Grüppchen irgendwo hinzukommen (vielleicht zu einer großen Wolkenversammlung?), während ich in meinem proppevollen Lokalflieger weit oben gemütlich Richtung Washington brummte.      
 
Als ich beim Anflug auf Washington erwachte, prasselte feinster Nieselregen gegen die Fenster und wir schwebten bereits in einer dichten weißen Wolkensuppe. Ruckzuck bekam ich jedoch (wie bei allen amerikanischen Inlandflügen) meinen Koffer direkt aus dem Bauch der Maschine direkt in den Gangway gereicht und suchte mir vor dem National Airport ein Taxi, mit dem mich ein schweigsamer riesiger Schwarzer (dessen Kopf beinahe am Autodach rieb) im Berufsverkehr durch die grünen Waldhügel rund um die Innenstadt hinauf nach Silver Springs brachte, wobei er unentwegt nervös auf seinem lederumspannten Lenkrad trommelte, als sei es ein Satz karibischer Congas. Nach dem Einchecken konnte ich feststellen, dass ein hartnäckiges Gerücht über die amerikanischen Hotels tatsächlich stimmt: Es gibt hier keinen 13. Stock! Mein Zimmer lag im 16. (Also 15.) Tja.
 
Bald schon holte mich Katharina Rudolf ab und brachte mich bei Nieselwetter zur Catholic University of America, die mich eingeladen hatte und wo abends ein Forumsgespräch zum Thema Mauerfall stattfand. Auf dem Campus befindet sich deutlich sichtbar auch die größte katholische Kirche der USA (The National Shrine!), ein historistischer Bau, der auf interessante Weise Merkmale der Ost- wie der Westkirche in sich vereint, gewissermaßen ein byzantinisches Rom mit der romantischen Klarheit des späten amerikanischen 19. Jahrhunderts imaginierend. (Im ästhetischen Ansatz der pseudoauthentischen Märchenarchtitektur der Berliner Neuen Synagoge aus derselben Zeit nicht ganz unähnlich.) Im Foyer des Vorlesungsgebäudes gab es an diesem Abend deutsche Gadgets und Imbisshappen; etliche Studenten sowie eine Expertengruppe der deutschen Botschaft trafen ein und wir machten uns bekannt, ehe für über zwei Stunden sehr emotional und kontrovers zum Thema deutsche „Wende“ und die Folgen diskutiert wurde. Später versackten wir deutschen Gäste und die amerikanischen Experten noch in einem Restaurant um die Ecke.  
  
Nachdem wir am nächsten Morgen meine Formalitäten auf dem Campus geregelt hatten, fuhr mich Katharina mit ihrem Auto kreuz und quer durch „D.C.“, um mir einen ersten Eindruck von der Hauptstadt zu verschaffen. In der Tat trägt die Politik des Raumes in Washingtons  Innenstadt neorömische Züge – kilometerweite Grünanlagen durchziehen zwischen zwei schnurgeraden Prachtavenues das Gelände, auf denen unter einem hohen Himmel weiträumig verstreut große Prachtbauten mit riesigen Treppenaufgängen und gigantischen Säulen aus strahlen weißen Steinen die Menschlein wie Orientierung suchende Ameisen aussehen lassen... zum Glück sind Macht und Größe von viel Grün und Wasser durchzogen, das macht es natürlicher und lässt die Füße in dieser Weite angenehm irdisch schmerzen.
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Das Weiße Haus im repräsentativen Herzen der Stadt war weiträumig abgesperrt (am Vortag hatte wieder einmal ein Verrückter den Zaun überklettert und wollte zu Obama ins Oval Office vordringen), auf den Wiesen am Washington Monument trainierte ein American Football Team und am Lincoln Memorial konnte ich in der staunenden Menge neben Russisch und Mandarin auch die sächsische Mundart heraushören. Die vielen beeindruckend großen Museen der Smithsonian Stiftung ringsum jedoch wollte ich mir (trotz freiem Eintritt)  für ereignisärmere Tage aufheben.




  
Vor allem thronte breit und erhaben das Capitol - allerdings mit unfeierlich eingerüsteter Kuppel, was dem Ganzen einen Hauch vom Berliner Endlos-Baustellen-Charme verlieh. (Überhaupt erschien mir Washingtons Atmosphäre in gewisser Weise der von Berlin zu gleichen - alles recht nüchtern, massentauglich, offiziell; nur eben zwei, drei Nummern größer... )
 Später sahen wir uns noch die legendäre M street (und den Campus der Georgetown University) in einem höher gelegenen Stadtteil an, dessen kleine Häuser und Einkaufstraßen einen bedeutend menschenfreundlicheren Eindruck machten, und gingen am Dupont Circle in einem eher stadteinwärts gelegenen Ausgehviertel essen. 

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Meine Lesung in einem Hörsaal der modernen Fremdsprachen der CUA lief ähnlich wie in Colorado: Zuerst sahen wir den kurzen Film der BBC über meine Erfahrungen am 9. Oktober 1989 (siehe hier), dann las ich einige der eigens übersetzten Passagen aus „Rabet“; allerdings hatten die Studenten in Washington tatsächlich schon fast den ganzen Roman auf Deutsch (!) gelesen und sich mit den politischen und sprachlichen Hintergründen des Textes befasst, sodass eine fast schon familiäre Atmosphäre entstand. (Im Raum hing zu meiner Überraschung übrigens eine Deutschlandkarte aus dem Jahr 1995 von Justus Perthes Gotha.) Gemeinsam mit Katharina Rudolf brachte mich die norddeutsch-handfeste Fakultätsdekanin Claudia Bornhold anschließend erfreulicherweise noch nach Mount Pleasant  (dessen kleinteiligere und multikulturellere Amtosphäre mir Washington schlagartig um einiges sympathischer werden ließ), wo wir im gemütlichen MARX Café (sic) noch ein revolutionäres Abendessen genossen und uns aufs Angenehmste unsere Geschichten erzählten...

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