Gut - dass bei der Landung in Kopenhagen die Maschine wegen
plötzlicher Seitenwinde noch einmal durchstarten musste, obwohl die Räder den
Boden der Landebahn bereits berührt hatten, war ein kleiner Schreck, aber wir
folgen den Flughafen einfach noch einmal von der anderen Seite her an und dann
klappte es. Auch dass ich den großen Transatlantik-Airbus nach Washington nach
dem Einsteigen noch einmal verlassen musste, weil ich meinen Herbstmantel
einsam und allein im Warteraum zurückgelassen hatte, war kein großes Problem.
Und dem nächtlichen Streik der Lokführer, der den Berliner S-Bahnverkehr
lahmgelegt hatte, begegnete ich zu Beginn der Reise einfach, in dem ich mir
eine Stunde länger Zeit für die Anfahrt auf Tegel genommen hatte, was auch
tadellos funktionierte... Schon in Berlin war ich wie immer noch vor dem
Abheben in einen tiefen Schlaf gefallen: Irgendwie hat mein Körper in den
letzten Jahren den Reflex herausgebildet, in ein erholsames Reisekoma zu
verfallen, sobald er einen Flugzeugsitz berührt. (Ein Überbleibsel der vielen
Fliegerei in Indonesien, wo der Körper lernte, sich sofort Schlaf zu holen,
wann immer Zeit und Ruhe dafür blieb.) Nach der üblichen Bordverpflegung geriet
ich also kurz hinter Schottland ins Traumland und wachte erst über Montreal
wieder auf. Die Landung in Washington Dulles verlief unspektakulär, die Hügel
um die Stadt leuchteten zwischen den Wolken in den gleichen Farben wie die
Wälder um Berlin. Dann allerdings stand ich mehr als zwei Stunden in der
dichtgedrängten multikulturellen Warteschlage für Einreisende ohne
amerikanischen Pass, was am Ende eines mehr als zehnstündigen Fluges nicht ganz
angenehm war. Man ließ mich ins Land, obwohl ich im Gegensatz zu den anderen
meine ESTA-Anmeldung nicht ausgedruckt hatte. Gegen drei gelandet (was mein
Körper sofort als geltenden Nachmittag
akzeptierte), konnte ich gegen halb sechs endlich in den roten
Nissan-Pathfinder von Tony Mendoza steigen, der mich (im Auftrag der University of Mary Washington) (unter
vielfachem Abspielen von ihm geliebter Saxophonsongs von seinem I-Pod) in
weniger als zwei Stunden durch den zähfließenden Feierabendverkehr auf
Virginias Highways Richtung Süden nach Fredericksburg bugsierte. (Es fühlte
sich nicht viel anders an als eine Fahrt auf dem Berliner Ring.)
Das Häuschen von Marcel und John liegt in einer stillen Seitenstraße
unter großen Bäumen. Weiß gestrichen, mit wunderbaren Schnitzereien verziert
und von allerlei bestens gedeihenden Pflanzen umgeben, erscheint es mit seinen
kleinen Zimmern voller geschmackvoller Möbel und dem kleinen Garten als
Inkarnation angenehmer Geborgenheit. (Die weißen Korbsessel auf der kleinen
Frontveranda haben selbstverständlich dezente Schaukelkufen.) Ich werde schon
erwartet und bekomme in der Abenddämmerung neben Cider im Garten und einer köstlichen Herbstsuppe in der Küche
auch das gemütliche Arbeitszimmer unterm Dach - und bin angekommen in Amerika.
Am nächsten Morgen führt mich John ein paar Schritte die Straße hinunter, wo zwischen Bäumen und fetten Uferwiesen gemächlich die braunen Wasser des Rappahannock Rivers entlangströmen (the mighty Rappahannock, wie John immerfort ergänzt). Über eine Brücke gelangen wir auf die Hügel der anderen Seite, wo in der goldroten Sonne des Indian Summer (wir sind ja auf uraltem Indianerland) die roten Backsteinhäuser von Chatham Manor liegen – einem legendären Ort vor allem während des amerikanischen Bürgerkriegs, von dem aus man die ganze Stadt Fredericksburg mit ihren Türmchen und Giebeln friedlich vor sich ausgebreitet überschauen kann. Die Wohnhütten der einstigen Farmsklaven stehen nicht mehr (weil sie eben nicht aus Backstein, sondern nur als Holz waren), aber Schautafeln erinnern daran. Der eifrige house guide in seiner Nationalpark-Uniform erklärt uns, dass Washington, Madison und Jefferson hier aus und eingegangen seien und dieses kleine Anwesen während der großen Schlachten des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges ein legendäres Notlazarett gewesen sei. Auch der Bruder des Dichters Walt Whitman sei hier verwundet worden, und als dieser schließlich kam und ihn besuchte, berichtete er später von Hunderten improvisierter Amputation, nach denen man die abgeschnittenen Glieder der Verwundeten aus Zeitmangel einfach aus dem Fenster geworfen und draußen unter den Bäumen zu einem Kegel aufgeschichtet habe...
Fredericksburg in Virginia ist also
eine kleine Stadt mit großer Vergangenheit, einer der wenigen Orte in den USA,
in denen man auf Schritt und Tritt Vergangenheit entdecken und der Geschichte
begegnen kann. (Mich erinnert es ein wenig an Weimar – auch so einer kleinen
Stadt mit großer Vergangenheit, die man heute mit viel Hingabe und großem
nostalgischem Selbstbewusstsein pflegt. Allerdings ist Fredericksburg etwas
luftiger und weniger eng, man spürt schon deutlich den Süden und ein wenig auch
den Atlantik, der – wenn auch schwer erreichbar – nur etwa 50 Meilen Luftlinie
entfernt ist.) Hier landeten einst die ersten britischen Siedler
dieser Gegend und eroberten das Land. Das erklärt uns ausführlich und mit
großem Enthusiasmus der schneidige Jack
Edlund, der das uralte steinerne Lagerhaus an der Rappahannockbrücke von der
Stadt übernommen hat, und als privater Archäologe dessen vier Stockwerke (von
denen nur noch das oberste auf Straßenniveau herausschaut) nun Schicht für
Schicht aus den Schlammschichten des Flusses gräbt, und dabei Unmengen an
Kanonenkugel, Münzen, Degen, Bajonetten aber auch Pfeilspitzen und Keramik
zutage fördert, die er in staubigen Vitrinen seines schummerig beleuchteten
Steinhauses stolz präsentiert.
Wir essen als ortsüblichen
Mittagsimbiss in einer kleinen Eatery in der verträumte Haupteinkaufstraße (die
neben der üblichen patriotischen Deko übrigens auch mit etlichen deutschen
Fahnen geschmückt ist – kürzlich war eine Delegation der deutschen Botschaft in
der Stadt) warme Sandwiches (ich einen John Monroe, John den legendären Reuben)
mit Essigchips und dazu Pflaumenlimo und schlendern weiter durch die
beschaulichen Straßen mit den großen Bäumen und den großzügig angelegten
Häuschen und Villen, von denen keines höher als zwei Stockwerke ist.
Schließlich erreichen wir das großzügige Gelände der University of Mary Washington (UMW), wo zwischen großen Bäumen und
gut gepflegten Wiesen zahlreiche rote Backsteingebäude um einen hohen
Märchenturm mit goldener Kuppel verstreut liegen. Auch hier herrscht eine
unaufgeregte, ruhige Atmosphäre mit ein wenig ländlich-britischem Flair und
einem Hauch Süden. Ich bespreche in Marcels Büro mit Nathan, einem freundlichen
Deutschstudenten mit ehrgeizigen Business-Ambitionen für Deutschland, die
Übersetzungen meiner Lesetexte; dann laufen wir hinüber zu Marcel, der mit
seinen Studenten auf einer der Campus-Wiesen - tja nun - die Berliner Mauer
wiedererrichtet. Junge Amerikaner sprühen fröhlich deutsche Sprüche auf weiße
Styroporplatten und fügen sie dann unter Anleitung eines projektführenden
Kunststudenten im milden Abendlicht der Sonne von Virginia zu einer Mauer
zusammen, die beim anschließenden Fotoshooting mit Angela Merkel (als Pappfigur
bereitgestellt von der deutschen Botschaft) tatsächlich eine Art East-Side-Gallery-Gefühl erzeugt. Am 6.
November soll diese Mauer dann in einer öffentlichen Aktion feierlich
eingerissen werden - am 9. November hat man wegen Wochenendes leider keine Zeit
dafür.
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