
Morgens gehe ich mit Julio aus dem Haus; er zur Arbeit,
ich auf Stadtexpedition. Zuerst fahre ich mit der Metro bis ins Herz der Stadt,
nach La Moneda. Hier steht der Regierungspalast, der bei Pinochets
Staatsstreich gegen Allende 1973 zerstört wurde – und nach dem Ende der Militärdiktatur
wieder aufgebaut wurde. Heute gibt es hier ein großes unterirdisches Kulturzentrum mit Museen und Galerien -
sowie die größten Erdbeeren der Welt (siehe Foto - die sind fast so groß wie die Avocados,
die auch gerade Saison haben) und die süßesten Bonbons von ganz Südamerika.
Von
dort aus laufe ich der Nase nach durch die Stadt und stelle mit Entsetzen fest,
dass mein nützlicher innerer Kompass, auf den sonst immer Verlass ist, hier überhaupt
nicht funktioniert – beziehungsweise: genau spiegelverkehrt! Will sagen: Wenn
ich 1 km nach Norden gehen will, lande ich 1 km im Süden, will ich nach Osten,
lande ich im Westen – immer exakt spiegelverkehrt zu meinem eigentlichen Ziel…
liegt es daran, dass die strahlende Sonne auf der Südhalbkugel andersrum steht? Oder richtet sich mein Orientierungssinn vielleicht instinktiv nach dem Magnetfeld
der Erde und das ist hier auf Süd gepolt?? Ich habe keine Ahnung, aber es
passiert mir an diesem Tag immer wieder, selbst wenn ich mir vornehme,
vorausschauend spiegelverkehrt zu denken… verdammt, das gab‘s noch nie!! Egal, die Stadt
ist angenehm und es gibt viel zu sehen, deshalb ist fast gleich, wo ich zwischendurch lande… Am Ende komme ich doch immer dort an, wo ich hin will.
Mit Hilfe netter Studenten und der
Metro finde ich schließlich das Ziel meiner zweiten Etappe:
Santa Lucia. Hier gibt es
unter anderem einen ruhigen Schnickschnack-Markt der Einheimischen, den ich
durchwandere und mir einen Riesenbecher köstlichen Fruchtsaft aus drei
frischen Fruchtsorten gönne (deren Namen ich natürlich längst wieder vergessen
habe…). Dann laufe ich hinüber zur
Nationalbibliothek und dem schattigen Park voller hoher Palmen und
Araukarien. Daneben erhebt sich pittoresk ein dschungelgrüner Hügel mit Treppen
und Türmchen – Santa Lucia, das ist auch ein Park mit Felsen,
Grasterrassen und riesigen Bäumen, eine duftende Oase in der Stadt. Ich
plaudere mit ein paar herumlungernden studentischen Aktivisten, die seit Monaten
gegen die teure Bildung protestierten und amüsanter Weise hoffen, dass ich ihr
Sponsor werde...

Entlang des hügeligen Parks wandere ich in der Mittaghitze vorbei an
den vielen Brunnen und Kirchen druch die Straßen dieser Stadt bis hinüber zum
Plaza Italia. Unterwegs überall
diese blühenden Bäume, deren glockenblumenzarte Blüten alle Fußwege
mit hellvioletten Federchen übersäen, als wären in der ganzen Stadt für
ein Brautpaar Blumen gestreut. Am Italienplatz steht der Telefonikaturm stolz und
postmodern; der reißende, schlammbraune
Río Mapocho strömt mit
irrsinniger Geschwindigkeit unter den
Straßenbrücken aus den Kordilleren (die sich in dunstiger Ferne fast unsichtbar aber mächtig über
der Stadt erheben) hinunter zum Meer.
Hinter
dem
tempelhofartigen Gebäude der großen Universität steht auf einem grünen Hügel die
Madonna von Santiago und segnet aus der Ferne mit zartweißer Hand das Land.
Am Fuße des grünen Madonnenhügels aber liegt
mein eigentliches Ziel für diesen Tag: Die
Fundacion Pablo Neruda. In einer
stillen grünen Seitengasse hatte sich Neruda in den vierziger/fünfziger Jahren
ein kleines verwinkeltes Liebesnest nach Art einer Seemannsbehausung an den Hang
bauen lassen, als sei dies der Steilhang einer Küste. (In Wirklichkeit sah man
damals, wo heute die Hochhäuser der Innenstadt die Sicht beherrschen, bei gutem
Wetter die weitläufigen Bergzüge der Andenkordilleren in voller Breite.) Heute
ist das Häuschen, dass sich mit allerlei schattigen Plätzchen, Treppchen und
dichtem Baumbestand über drei Ebenen an den Berg schmiegt, ein Museum. Carlos,
der Pressechef der Stiftung, begrüßt mich freundlich, er bedauert, dass bei der
Kürze meines Aufenthaltes leider keine Lesung mit mir zu organisieren war, aber
er wird als Ausgleich arrangieren, dass ich am Samstag auch an
der Küste vor Valparaíso im anderen Haus der Stiftung, dem Alterssitz Nerudas,
empfangen werde... höflich sind sie zu den Dichtern, die Chilenen.

Durch das Haus führt mich dann Alvaro (der natürlich nur zur
Aushilfe hier arbeitet und eigentlich auch Dichter ist); leider darf ich im
Inneren dieses wunderbaren Häuschens wie alle Besucher keine Bilder machen. Er
kennt dafür allerlei Schnurren aus dem wilden Liebes- und Dichterleben Nerudas,
er zeigt mir die geheimen Türen, durch die er seine Gäste gern als Pirat
verkleidet erschreckt haben soll; er macht mich auf die vielen Kuriositäten
aufmerksam, die der weltreisende Neruda zusammengetragen hat, aber er weiß auch, dass dieses
Haus nach Nerudas Tod (nur 12 Tage nach Pinochets Staatstreich) bis auf die schweren
Tische vom Militär verwüstet und ausgeräumt wurde und alles, was wir jetzt
sehen, von Nerudas „Witwe“
Matilde Urratia (in Wirklichkeit hat Neruda nur die erste seiner drei Frauen geheiratet - die Nebengeliebten mal ganz außeracht gelassen - er wurde nie geschieden; diese Sängerin blieb jedoch nach sein Tod hier in Santiago wohnen), die - anders als Neruda, der noch zwei weitere Häuser besaß - in diesem Haus starb, ehe es Stiftung und Museum
wurde, im Geiste Nerudas wieder neu eingerichtet wurde.
Im unteren Bereich, dem Steinhaus an
der Gasse, gibt es gleich hinter einer effektvollen kleinen Willkommens-Bar das niedrige, tunnelartige
Esszimmer und dahinter die Küche. Hier hat der gesellige Neruda ständig Gäste aus aller Welt empfangen. Der ruhelose Poet, der im Laufe seines in jeder Hinsicht bewegten Lebens in zig Ländern gelebt hat, war definitiv ein Seefahrertyp: Überall gibt es Schiffslaternen und Muscheln und hölzerne
Einrichtungsgegenstände, selbst die Zimmerformen erscheinen ganz wie auf einem
Schiff. Auf der zweiten Ebene, in die man über ein paar Stufen durch den Garten
den Hang hinauf erreicht,
findet sich ein Kaminzimmer mit einem
herrlichen Rundblick über die Stadt hinüber zu den majestätischen Kordilleren. Überall hängen Gemälde von Malerfreunden wie Diego Riviera bis hin zu einer Caravaggio-Replik eines sich im Kerzenschein
räkelnden Kleinkindes (von dem Neruda angeblich behauptete, es zeige ihn als
Säugling). Atmosphärisch erscheint mir das verwinkelte Anwesen wie eine
Mischung aus Günter Grass‘ holzgeschnitztem Bauernhaus aus dem 16. Jahrhundert in
Wewelsfleht – denn überall in Nerudas Haus knarren Dielen, wendeln sich enge
hölzerne Treppchen, gibt es geschnitzte Borde und Türrahmen – und dem
ostseehellen, pflanzenumwucherten Hanna-Höch-Häuschen in Berlin Heiligensee, mit
Zimmerchen, hellen Fenstern und einer natürlich-maritimen Gestaltung, die Innen und Außen
gleichermaßen zu einem Gesamtbild verwachsen lässt.

Auf der abgelegenen dritten Ebene des
kleinen Anwesens, noch weiter den Hang hinauf, findet sich dann Nerudas schattiges Studio (auch
hier, wie schon vorher, ein paar handgeschriebene Gedichtentwürfe im Original, aber unter
dem Schreibtischglas), hier sieht man in einer Vitrine Nerudas gesammelte Preise
– von Stalins "Lenin-Friedenspreis" bis hin zur Nobelpreismedaille für Literatur
(die er im gleichen Jahr wie Willi Brand den Friedensnobelpreis bekam). An den
Wänden altertümliche Stiche von Walfängerabenteuern an der Küste von Valparaíso sowie Fotos
von Nerudas trauriger Beerdigung kurz nach dem Sturz Allendes. (Alvaro weißt
mich auf einige alte Fotos von Idolen und Freunden Nerudas hin, neben Whitman, Majakowski
und Rimbaud auch Marcel Marceau, der als persönlicher guter Freund selbst oft in diesem Haus Nerudas zu Gast gewesen sei. Alvaro
meint, Marceau, der weltberühmte Pantomime, hätte anlässlich Nerudas Tod zum
ersten und einzigen Mal auf der Bühne etwas gesagt.)

Ich trinke noch einen
Kaffee im Schatten der Bäume von Nerudas arkadischem Santaigoer Liebesnest
La Chascona
und verabschiede mich dann von Alvaro. Unten in der Stadt verlaufe ich mich
prompt wieder exakt seitenverkehrt, was ich erst nach zwei, drei Kilometern
bemerke, sodass ich ausnahmsweise eines der schwarz-orangefarbenen Asphalt-Gaucho-Taxis
zur Hilfe nehmen muss, um am späten Nachmittag für eine dringend nötige Pause
in Julios Dichterdomizil in der Providencia zu gelangen … (hrgg!)
Julio kommt ziemlich spät und geschafft von der Arbeit, aber auch ich bin noch nicht fertig mit allen, was zu tun ist, dabei haben wir heute noch so viel vor: Neben den Übersetzungen, die fertigzustellen sind, sind wir heute noch zum Konzert von
PANICO ein geladen - die sind hier in Santiago angeblich ja ein ganz großes Rock-Ding. Und wir kennen die Bassistin-Sängerin... Der Einfachkeit halber machen wir uns per Taxi auf den Weg zum Museum der schönen Künste, einem klassischen Museumsbau mit schmiedeeisernen Gittern und Löwen vor der Tür (nicht tatsächlich, aber es fühlt sich so an...). Unterwegs ruft Julio jemanden an und stell sein Handy auf laut: "Hallo wer ist da?" ruft eine alte Frauenstimme auf Deutsch; Julio antwortet etwas auf Spanisch und dann wird aufgelegt. "Das war sie." meint Julio. "Wer?" frage ich. "Margot." sagt Julio. "wenn alles klappt, sind wir Samstag abend in ihrem Haus." Margot Honecker, die Großmutter von Julios Dichterfreund Roberto Yanez.


Das Konzert ist eigentlich eine Filmpremiere, der Film, den PANICO in der
Atacama-Wüste gedreht haben, läuft schon, als wir kommen; aber da wir nicht offiziell auf der Gästeliste stehen und drinnen alle ihre Handy ausgestellt haben, kommen wir nicht rein. Julio zeigt mir also erstmal das Viertel und wartet, ob jemand von drinnen zurückruft. Wir finden in einer Szenebar einen lustigen Laden, in dem es Voodopuppen von Pinochet und Chiles amtierenden Präsidenten
Sebastián Piñera gibt, aber auch niedliche wollene Kuschelpuppen von Sokrates oder Charles Darwin sowie sogar Fingerpuppen von Tolstoi oder Baudelaire - leider erlesen handgearbeitet und alles viel zu teuer, um es als Spaß mal eben mitzunehmen. Dann meldet sich Ingrid Isensee, die
Filmschauspielerin, auf Julios Handy - sie ist noch gar nicht im Museumstheater, sondern kommt gerade erst von der (Casting-) Arbeit. Wir setzen uns in eine Bar und trinken chilenisches Honigbier bis uns Ingrid (wieder strahlend und im überzeugenden Stil gekleidet, siehe Foto) abholt, und mit dem Charme ihrer Prominenz durch alle Kontrollen in den überfüllten Saal führt, wo nun bereits das Live-Konzert der Band nach dem Film begonnen hat. Die Musik beginnt psychedelisch (ein
Peyote-Trip in den späten Sechzigern, einigten Julio und ich uns, und strichen uns demonstrativ unsere nicht mehr vorhandenen langen Haare hinter die Ohren...). Leider geht das fast eine Stunde so weiter, um dann am Schluss für 3 Minuten in einen großartig trockenen Elektro-Rocksong zu münden. Das war's. Leider. Genug für uns, Mitternacht war vorüber, und alte Knaben wie wir müssen ins Bett weil morgens früh raus.