Freitag, 9. November 2012

Brasilienblog (2)


immer noch Donnerstag, 8. November

Auf dem Gelände wimmelt es von Leuten aller Art, viele tragen bedruckte T-Shirts mit dem Festival-Logo in verschiedenen Farben, offenbar sind Hunderte Leute aus dem Viertel mit dem Festival beschäftigt: Technik, Logistik, Verpflegung, geschäftig läuft man hin und her, redet und telefoniert aufgeregt. Dazwischen Ambulanzen, Polizeiautos mit demonstrativ flimmernden Lichtern und Milizionäre Schusswesten im friedlichen Straßenplausch (die UPPs, die Favelapolizei von Rio, ist ein wichtiger Mitausrichter des Festivals - Kultur als Mittel der Zivilisierung...). Und Dekoration – überall sind Grünpflanzen in großen und kleinen Kübeln aufgestellt, zwischen denen hier und da Banner mit dem fröhlich gelben Design des Festivals drapiert wurden. Das Gelände auf dem Hügelpark ist weitläufig und geschmackvoll hergerichtet. Was diesen Ort unvergleichlich macht, ist der Blick über die gesamte Breite der Innenstadt zum Meer. Die Bewohner dieser Favela haben von ihren Terrassen und Schlafzimmern aus definitiv einen der aufregendsten Ausblicke dieses Planeten.  In einer großen, bunt geschmückten Halle zwischen der weinroten Art-nouveau-Villa und dem steilauf bebauten Favelaberg  findet das Hauptprogramm des Festivals statt; davor gibt es kleine Fensterkioske und ambulante Essensstände. Als ich die Halle betrete, gibt es offenbar eine Pause im bereits angelaufenen Programm, Festivaldirektor Toni begrüßt mich vom anderen Ende des Saals fröhlich durch das Mikrophon.
Die Eröffnung gestern habe unten auf dem zentralen Platz einer anderen Favela stattgefunden, erzählt man uns, tausend Kinder hätten getanzt und gesungen, lokale Rapper sowie der lybischen Revolutions-HipHoper MC Swat seien aufgetreten. Für uns ist es nicht ganz leicht, Informationen zu bekommen, aber im Backstagebereich empfängt uns Anna (frisch aus Berlin nach Rio gezogen) als Managerin mit Material, Kaffee und Schnittchen. (Auf dem Tresen steht neben der Cola eine Flasche ortsüblichen Zuckerrohrschnapses - wie bei uns neben der Kaffeekanne die Milch.) Meine Begleiterin für den Tag ist Anna-Clara, eine junge Sozialarbeiterin, die seit einem halben Jahr unter den Kindern und Jugendlichen in den umliegenden Favelas für dieses Festival geworben und sie mit diversen Bildungs- und Kulturprojekten in das Geschehen eingebunden hat – eine Rechnung, die offenbar aufgeht, denn Scharen von Schulkindern und Teenager-Cliquen durchstreifen das Gelände und beäugen fröhlich das Angebot.
  Mit Festivalchef Toni und Dichter Narjwan durchstreife ich das Gelände, wir werden diesem uns jenem vorgestellt und fotografiert; die weinrote Villa entpuppt sich als Ausstellungraum mit Buchladen – eine edle Kolonialvilla mit feinsten Hölzern, viel Luft und Licht; wir finden auf dem handverlesenen Büchertisch auch den „Infamen Kuss“ von Toni, ein Roman über US-amerikanische Afghanistanveteranen, die sich gegenseitig sexuell demütigen (sagt er). Dann esse ich mit Anna-Clara an einem der Stände würziges Hühnchen mit Nudeln und leckerer Gemüsesoße. In der Haupthalle läuft mittlerweile das Programm weiter, die hochnäsige Susan Nicklin, Londoner Literaturchefin des Bristish Councils, stellt der Autorin Yvette Edwards angesichts des jungen Publikums völlig deplatzierte very sophisticated Fragen, aber als Yvette eine Passage über erste Liebe aus ihrem Roman vorliest, lachen die Teenagerjungs unter ihren Übersetzungskopfhörern immer wieder kollektiv laut und gequält auf. Merke: Englisch ist bei Brasilianern nicht unbedingt Standard (andere Sprachen noch weniger); überraschenderweise ist mir das in diesem (amerikanischen) Fall aber sympathisch.
  Dann folgt eine Programmrunde über Fußball mit einem bekannten brasilianischen Journalisten und als vom Goethe-Institut großartig präsentierten Gastexperten „der Meister“ (so alle portugiesischen Mitwirkenden wiederholt und demonstrativ) Thomas Brussig (gütig und mild lächelnd). Über den 90 minütigen Versuch, dem sich leerenden Saal zu erklären, dass Fußball und Literatur vieles gemeinsam hätten  muss nicht mehr gesagt werden als dass der Brasilianer Geschichten von Homer erzählte, während Brussigs zentrale Botschaft war, dass der Fußball uns einzigartiges Glückmomente schenkt, wie wir sie in der Literatur nicht finden können. (Zum Ende hin gesteht er dann doch noch halbwegs ein, dass er „kein besonders guter“ Fußballer sei). Im Gespräch mit Anna-Clara, die aus dem Programmverlauf Kontrollfragen für ihre Favela- Jungsgruppen erarbeitet, mit denen am Ende des Festivals der Gewinner eines 3000-Real-Preises ermittelt werden soll, verpasse ich das verkleckerte Ende des Fußball-Beitrags, es gab offenbar nicht einmal einen ordentlichen Schlussapplaus.

      

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