Santiago de Chile -
Mittwoch, 14. November
Um acht Uhr weckt mich Julio, er fährt zur Arbeit in der
Stiftung, ich mache mich zu Fuß auf den Weg zum Interview beim Radio Universidad de Chile das nicht
weit entfernt in einem hübschen, himmelblauen Gebäude seinen Sitz hat. Ich
werde erwartet von Livi Lavin, einer sympathischen, sehr interessierten Journalistin, die wie ich verfluchte, dass wir für diese Begegnung an
das ungeliebte Hilfsmittel der englischen Sprache gebunden sind (die den
Reichtum unserer originalen Gedanken natürlich niemals genügend komplex wiederzugeben
vermag...) – und die mich zunächst mit dem (gerade auf seine Sendung wartenden)
weltweit gefeierten Astronomen Prof. José Maza bekannt macht, dessen bahnbrechenden
Arbeiten über Supernovae die Erkenntnis ermöglichte, dass unser Universum
unumkehrbar expandiert (wofür andere letztes Jahr den Nobelpreis bekamen). Wir plaudern darüber, das in der DDR etwas wie Astronomie nur studieren durfte,
wer sich ohne jeden Widerspruch Margot Honeckers Ideal einer „allseits
entwickelten sozialistischen Perönlichkeit“ unterwarf.
Ich kehre zurück an den fliegenden Schreibtisch, es müssen Dinge mit Berlin (Büro, Literurwerkstatt etc.); London (der geliebte British Council, das NWC, Kei Miller etc.) sowie Rio geklärt werden (Toni braucht Material für einen Essay übers FLUPP); auch „Dänemark ruft“ (wie die Email mit Spezialaufträgen von commandante Niels benannt ist, der mir auch sein Lieblingslied über die Straßen von Santiago mailt.). Mittags esse ich nach 14 Uhr in einem Bistro um die Ecke: Hier bäckt man frische Empanadas (duftende, tellergroße Hefeteigtaschen mit heißen Füllungen) und trinkt tropische Fruchtsäfte oder Kaffee. Übrigens: Obwohl Santiago als Stadt mit der schlechtesten Luft der Welt gilt (und ich beim Anflug selbst ja die riesige Smogwolke über dem langestreckte Talkessel sah), empfinde ich sie bislang als einen wunderbaren Ort der Wohlgerüchte: Am Flughafen draußen roch es angenehm leicht nach Pinienholz und Rauch, in der Stadt nach dem Blütenhauch der Straßenbäume; und in Julios kleinem Hofgarten (mit blühenden Rosen und ständig besetztem Pförtnerhäuschen) duftet es (mitten im Alltagsverkehr) immer wunderbar warm nach einer kleinen Imbiß-Bäckerei im Erdgeschoss.
Abends fahren wir mit dem himmelblauen Suzuki dann in eine nordöstliche Gegend, in der die seit Jahrhunderten regelmäßigen Erdbeben von Santiago noch ein paar ältere (einstöckige) Häuser stehen ließen. Die Kneipe heißt San Remo, aber es ist eine weitläufige, traditionell-chilenische Gastwirtschaft, bei der noch auf dem offenen Feuer gebraten wird und die Tische und Plastikstühle wild in den offenstehenden Zimmern hin und her geräumt werden. Die Dichter Miguel Naranjo (Michel Apfelsine genannt Meikel Orange) und Leonardo Sanhueza gesellen sich zu uns und erzählen, dass das San Remo demnächst abgerissen werden soll, weil eine neue U-Bahnstrecke entsteht – und prompt taucht ein Bekannter von Julio auf und will uns alle für die Bürgerinitiative gegen den Abriss gewinnen. Leonardo schlägt vor, für das San Remo eine hausgroße Beule in den Verlauf der U-Bahnstrecke gebaut werden soll. Als Spezialität des Hauses gibt es, nun ja, Schweinerollen, zumindest ist das Fleisch sehr zart und sehr mager. Wie allgemein üblich gibt es hier als Salat Avocadoschnitze mit Selleriestangescheibchen, dazu Essig, Öl & frische Zitrone, sehr lecker.
Als ich berichte, dass der Astronomieprofessor Maza mir heute erklärt hätte, dass dank seiner Forschung nun erwiesen ist, dass sich das Weltall immer weiter ausdehen und alle Dinge sich immer weiter entfernen werden - was ich traurig fände, weil mir so das Happyend fehlen würde, bei dem am Ende alle und alles wieder zusammenkäme - meinte Leonardo trocken, das seien doch wunderbare Nachrichten, er fände das gut - dann gäbe es bald mehr Platz für jeden von uns... Wir lachen uns schlapp und finden noch allerlei Themen zum, ja, gehobenen Kneipenphilosphieren. Julio aber hat Stress mit der Endproduktion und Bezahlung des Zubehörs für die nächste, noch geheime, Aktion von Casa Grande nächste Woche, deswegen telefoniert er viel und ist insgesamt heute eher genervt. Allerdings haben die Chilenen eines drauf: Am Tisch (und schon gar nicht auf ihm) gibt es generell keine Handys, man redet miteinander und wichtiger als irgendwelche Themen abzuhandeln ist es, mit heiteren Ideen allen eine gute Stimmung zu bereiten. Sehr sympathisch.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen