Santiago de
Chile - Dienstag, 13. November
Früh am
Morgen verschwindet Julio zur irgendeinem dienstlichen Außentermin. Mein
Radio-Interview verschiebt sich um einen Tag, sodass ich endlich Zeit habe mal
ein wenig zu bummeln (das erste Mal auf dieser Tour); also ausschlafen,
duschen, lesen, schreiben, Gepäck sortieren, einkaufen gehen usw.; Julio hat
ausgezeichneten guatemaltekischen Bauern-Kaffee, den ich in großen Tassen zu
mir nehme während draußen in der heißen Sonne der Verkehr von Santiago um das
Haus braust (einmal dachte ich deswegen gar, ich hätte die Dusche angelassen). Den Mittagsimbiss
hole ich mir im Kiez-Lebensmittelladen nebenan.

Nachmittags mache ich mich auf den Weg in die
Stadt, ich bummele in der trockenen Hitze des Tages langsam Richtung
Zentrum und genieße das südländische Flair dieser Gegend, in der es besonders
viele Privatuniversitäten und kleinere Banken zu geben scheint. Schließlich
steige ich hinab in die Metro, um etliche Stationen bis ins Herz der Stadt zu
fahren. In einer ruhigen Seitenstraße finde ich die Universidad Diego Portales.
Nach einer Minute Wartezeit braust Julio in seinem blauen Zauber-Suzuki heran
und wir betreten die angenehm kühle und helle Universität, die mir wegen ihrer
fröhlichen Farben fast wie eine Grundschule vorkommt. An den Wänden hängt hier
und da ein Poster mit meinem Konterfei, daneben dunkle Gedächtnisposter für
einen Dozenten, der vor einem Monat bei einem Sturz in den Fahrstuhlschacht
dieses Gebäudes starb.
Wir besuchen Rodrigo Roja, den Leiter
der Abteilung Kreatives Schreiben, in seinem Büro, später treffen wir auch
Prof. Kurt Folch, den Chef der Fakultät. Beide gehen mit uns in das Seminar für
literarisches Übersetzen, bei dem ca. 12 Studenten mit Julios Übertragungsentwürfen
von vier meiner Gedichte konfrontiert werden. Bei Keksen und wilden
Diskussionen zerpflücken sie gemeinsam meine „Malaria“, wobei mir besonders
zwei Jungs auffallen, die meinen deutschen Text offenbar noch genauer lesen als
Julio und ihn mehrfach auf raffinierte Wendungen aufmerksam machen, die schon
im Deutschen schwer zu verstehen sind – und dies, obwohl sie kein Deutsch
können und nur die autorisierte englische Fassung als Hilfe haben. Nach anderthalb
Stunden ist natürlich noch nicht einmal dieses Gedicht fertig besprochen; alles
in allem habe ich von den Disputen auch nicht sehr viel verstanden, aber das
Seminar ist zuende, wir plaudern noch ein wenig mit den Dozenten und brausen
dann mit den himmelblauen Zaubersuzuki zurück nach Hause.
Abends schwingen wir uns auf die Räder
und radeln um die Ecke, um Ingrid abzuholen. Das sie eine besondere Person ist,
wird sofort klar, wenn man sie selbstbewusst und anmutig aus ihrem Wohnblock
treten sieht: mit Kleid, Tuch und Tasche in unauffälligen, aber femininen
Pastellfarben tritt sie als mädchenhaft-zerbrechliche Lady auf, deren Alter
schwer zu schätzen ist. Selbst ihr Fahrrad passt auf dezente Weise zu diesem unaufdringlichen,
aber überzeugenden Stil. Ingrid Isensee spricht Deutsch, aber sie hasst ihren „Oma“-Namen
(vollständig: Ingrid Karina Isensee) und all dies verdankt sie irgendwelchen
ihr ziemlich fremden germanischen Vorfahren, die ihre Eltern mit der Erziehung in ewigen Ehren
halten wollten. Ingrid ist eine angesagte Filmschauspielerin (in einem deutschen TV-Film über Chile hat
sie u.a. vor einiger Zeit die junge Hannelore Elsner gespielt), aber vor allem spielt sie
im chilenischen Gegenwartskino. Fröhlich, unprätentiös und ein wenig melancholisch
radelt sie mit uns durch das dämmernde Santiago und ringt um vergessene
deutsche Vokabeln.
Wir alle sind eingeladen zu einem
Freundschafts-Essen bei Alicia, einer chilenischen Filmregisseurin, anlässlich
des Besuches eines italienischen Filmemachers, Alessandro, der demnächst im
Süden Chiles einen Road-Movie über zwei italienische Homosexuelle drehen will... Etliche
chilenische Aktivisten der hiesigen Filmszene nehmen teil an der lockeren
Wohnzimmer-Zusammenkunft, bei der es indisches Essen aus Töpfen vom Tischbuffet gibt.
Die Gespräche sind atmosphärisch familiär und wirklich interessant (unter anderem mit der französischen Sängerin
der in Chile und Frankreich sehr populären Rockband PANICO, die gerade einen
Experimentalfilm in den nördlichen Wüsten Chiles abgedreht haben…); besonders
spektakulär jedoch ist die Aussicht von Alicias Balkon auf den schier endlosen Sonnenuntergang über dem abendlichen
Zentrum Santiagos ...

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