Santiago – Samstag/Sonntag, 17./18.
November

Der Abschied kommt standesgemäß: Abends machen wir uns
ausgehfein und holen Ingrid in ihrer kleinen Wohnung um die Ecke ab. Dort
entdecke ich, dank eines Posters in ihrem Arbeitszimmer, dass sie der „hochschwangere“ Star eines offenbar recht grausamen chilenischen Horrorstreifens namens „
BabyShower“ war… (Der es auch in Deutschland

zu einigem Ruhm geschafft haben soll…
aber definitiv kein Film für werdende Väter & Co, warnt sie mich.) Im
wirklichen Leben ist an Ingrid nichts Gruseliges, sie beherrscht vielmehr die
Kunst, mit kleinen Dingen äußerst effektiv eine angenehme Atmosphäre zu
schaffen.
Eine Freundin von ihr kommt mit dem
Taxi: Alicia (Rodriguez), auch eine Schauspielerin, die uns fröhlich begrüßt
als würden wir uns schon ewig kennen. Gemeinsam fahren wir weiter ins Haus von
Felipe (dessen Frau eine erfolgreiche Filmproduzentin ist) der heute Geburtstag
feiert und mit der ganzen Clique auch mich eingeladen hat. Tatsächlich treffe auch
ich Bekannte, darunter einen der Künstler aus dem
Rapa Nui von gestern Abend und auch den Gitarristen von PANICO, der
mir berichtet, dass er jetzt in Paris lebt und mit seiner neuen englischen
Freundin gerade einen Sohn bekommen hat. Felipes Wohnung

ist in einer Mischung
aus gemütlich und modern eingerichtet, definitiv ein Künstlerhaus von nicht
gerade armen Leuten. In der Küche bereitet man Melissen-Caipirinhas zu. Und auf
dem zur Wand geräumten Esstisch steht ein kaltes Buffet mit Guacamole und
vielen kleinen hausgemachten Leckereien chilenischer Art bereit. Der Hausherr steht
im Wohnzimmer persönlich an den Turntables und legt fluffigen Alternative-Rock aus
Chile auf. Auf den Tischen stehen Knabbereien
aus einer mir unbekannten kleinen Nussart und – gute Idee – nur kurz
blanchierter grüner Spargel mit Dipp als Fingerfood zum Naschen bereit … Wer
will, bedient sich bei Rotwein, Sekt und Whiskey an der Hausbar. Es stellt sich
heraus, dass Ingrids Schaupielerkollegin Alicia erst 20 Jahre alt ist, aber
bereits in zwei großen Filmen mitgespielt hat: In ihrem letzten Erfolg, der
coming-of-age-Geschichte „
Young &Wild“, die wohl auch auf die letzte Berlinale eingeladen war, spielte Ingrid:
Ihre Tante … Wir trinken Sekt & Whiskey, besprechen die Bedeutung der
Berlinale für die Filmkunst dieser Welt (Fazit: wie die Stadt Berlin selbst -
künstlerisch/inhaltlich sehr schön, ökonomisch eher unbedeutend) und vergleichen
wieder einmal Berlin und Santiago …

Gegen Mitternacht ist es Zeit für den
Abschied von der Künstlerclique mit vielen guten Wünschen, Küssen und
Umarmungen. Dann schnappt mich Julio und wir fahren mit dem Taxi in die
Innenstadt zu einer noch größeren Party: In der angesagten „
Clinic“ findet die
interne Eröffnungsparty für das hauptstädtische „Urban Interventions Festival“ statt
(an dem sich in der kommenden Woche auch
Casa
Grande mit einer Überraschungsaktion beteiligen wird, deshalb stehen wir
auf der Gästeliste). Auf drei Etagen trudeln allmählich die Verrückten und
Künstlertypen Santiagos ein, um auf Kosten des Festivals zu tanzen und zu
trinken, was das Zeug hält… Die Partys gehen in Santiago noch später los als in
Berlin, meint Julio, meistens wird erst gegen 4 Uhr der Höhepunkt der Stimmung
erreicht. Die „Clinic“ ist ein Club, der gerne so cool wie das Tacheles wäre
und deswegen allerlei schräge Graffitis an den Wänden des Treppenhauses hat,
doch das Mobiliar und die sonstige Einrichtung sind gediegenes altes Europa:
Schwere Eiche und Marmorfußböden. Keine unangenehme Mischung, finde ich. Cristobàl
und ein paar andere Freunde von
casa
grande sind auch da; es wird lang und breit über alles und nichts palavert
und ich probiere ein erschreckend scharfes Getränk aus einer Sektschale:
Pisco sour mit grünem Chili… (diese
Spezialität des Hauses ist allerdings eher ein Dessert für Freunde feurigster
Saucen als ein Cocktail); Julio gönnt sich am Ende einer langen Woche demonstrativ
eine dicke Zigarre.
Der DJ gibt sich
große Mühe, der unentschlossenen Feier-Meute mit krasser Musik einzuheizen,
doch ehe die Party endlich etwas Fahrt aufnimmt, werde ich endgültig müde - und
lasse mir kurzentschlossen von Julio ein Taxi besorgen (gut so, denn der erste
„staatliche“ Taxifahrer wollte tatsächlich eine extreme Summe von mir und
konnte natürlich „completely no English“) … adios
Clinic, adios unermüdliche Künstlerkreise von Santiago! Aber im
Bett ist es auch schön.
Am nächsten Morgen hole ich mir warme
chilenische Weißbrötchen vom
Castano gegenüber und mache mir einen
großen guatemaltekischen
Kaffee. Wie versprochen steht Julio tatsächlich pünktlich halb zehn Uhr auf der
Matte, obwohl er in der letzten Nacht allerlei Whiskey & Cigars zu sich
genommen haben muss und angeblich noch bis nach vier in der „Clinic“ geblieben war.
Wir frühstücken, unterbrochen von beiderseitigen Alltagstätigkeiten, gemeinsam
stehend in der Küche; ich halb in der andisch brennenden Morgensonne auf dem
Balkon, um mich für den Heimweg noch mit südlichem Licht aufzuladen. Dann
brausen wir mit dem himmelblauen Suzuki über den Highway zum Flughafen von
Santiago und ziehen Fazit…

Für mich ist Chile, oder zumindest Santiago, ein
erstaunlich europäischer Ort, der geistig näher am alten Europa denn an
Nordamerika zu liegen scheint. Das Künstlernetzwerk hier ist goldwert, denn es
ist weniger von Konkurrenz und Gleichgültigkeit geprägt als in Berlin (dafür
ist aber auch das kulturelle Angebot kleiner). Mich wundert aber, dass alle,
die ich traf, so schlecht über Santiago und so begeistert von Berlin redeten -
und argwöhne, dass es nichts als die üblichen Projektionen sind, die das Gras
in Nachbars Garten stets grüner erscheinen lassen, als das eigene; denn mir hat
es in Santiago ganz gut gefallen. (Julio ist nicht einverstanden mit dieser
Einschätzung.) Es ist vielleicht nicht der einzige Ort aller Träume, aber als
Exil wäre Santiago zumindest für Ostdeutsche eine perfekte Wahl: Klima und
Gesellschaft sind recht ähnlich, aber doch ein wenig angenehmer; eine gute
Mischung aus Bekanntem mit ein wenig Exotischem - und Deutsche genießen hier,
auch wegen der Einwanderer, einen guten Ruf. Margot jedenfalls hat nicht den
schlechtesten Ort für ihre Rente erwählt – auch wenn es Julio letztlich leider
nicht geschafft hat, ihren Enkel Roberto zu überzeugen, dass man vor mir keine
Angst haben muss… das Treffen muss, wenn überhaupt, irgendwann in Berlin
stattfinden. (Es heißt aber,
Roberto Yanez bereite derzeit zwei Veröffentlichungen
in Deutschland vor.)
So überfliege ich - nachdem mir Julio
das Versprechen abgerungen hat, dass wir aus diesem Kontakt etwas entwickeln
und ich baldmöglichst, gern auch mit Frau und Kind, wiederkomme - den Hügel mit
Margots kleinem Haus am Fuße der Kordilleren schließlich mit einem dicken Jet
der Air Canada in Richtung Buenos Aires.
.

Muchas gracias, Julio, por todo...
Zum Thema bitte auch die Fortsetzung vom November 2013 in Berlin beachten: http://butterflywar.blogspot.de/2013/11/on-fiday-nov-1st-german-chilean-poet.html
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