Samstag, 10. November 2012

Brasilienblog (6)


Rio, Samstag, 10. November

Der Nieselregen ist geblieben, dennoch werde ich wieder um 6 Uhr wach. Nach dem Frühstück fahren wir mit dem Van Richtung Christus auf dem Berge, aber, dort angekommen, hören wir vom Betreuungspersonal an der Ticketschlange für die Seilbahn hinauf, dass der Regen die Statue heute zumeist in Wolken hüllt und man deswegen nicht viel sehen können wird.  Einige fahren dennoch hinauf, Yvette mit ihrer energisch-monserratischen Mutter Elisabeth und ich hatten gestern ja bereits die durch nichts zu überbietende Aussicht vom Zuckerhut, deswegen lassen wir uns derweil zu einer Shopping mall fahren, wo die beiden shoppen gehen und ich so lange in einem Café auf meinem Laptop herumhacke.
  Später steigen die Christushügel-Ausflügler durchnässt aber zufrieden wieder zu uns in den Van - und Gastbetreuerin Sandrine (eine taffe Französin, der tatsächlich akzentfrei Englisch und Portugiesisch sowie einige weitere Sprachen halbwegs passabel spricht) fährt mit uns in ein proppenvolles Fischrestaurant in den Hügeln von St. Teresa. Dort gibt es nur Portionen für zwei, also muss ich mir mit meinem Tischpartner Kei ein Essen teilen – er will unbedingt Muräne, ich auf keinen Fall. Wir einigen uns auf brasilianische Fischpfanne mit Bananen und Brokkolireis (köstlich, besonders letzteres – keine Ahnung wie die diesen ungewöhnlichen Geschmack hinbekommen, aber Kei sagt, das sei etwas sehr Übliches hier) und Ananassaft mit Minze dazu. (Yvette und Mutter haben zum Glück Muräne bestellt, sodass Kei davon probieren kann und alles zur Zufriedenheit aller ausgeht.) Auf dem Weg zum Festivalgelände unterhalte ich mich lange und intensiv mit dem jüdischen Brasilianer Bernardo und MC Swats jungem Manager Abdulla über die Revolutionen in Leipzig und Bengasi (dem Ausgangsort des bewaffneten Widerstands gegen Gaddafi im letzten Frühjahr) – und erstaunlicher Weise gibt es viele Bezüge, besonders der junge Libyer ist von den deutschen Geschichten begeistert und sieht etliche Zusammenhänge, die ich nicht sehe…
  In Kei Millers Bühnenprogramm (irgendwie zu karibischen Literatureinflüssen, sponsert by British Council) erfahre ich, dass heute morgen das Fußballspiel des FLUPP stattgefunden hat – die Jungs hatten gehofft, dass (samtagsmorgens früh um 7 Uhr) ein paar Autoren auftauchen und mitspielen würden… Thomas Brussig also war zu ihrer Enttäuschung nicht da. Tja. (Ich natürlich auch nicht, aber ich bin ja auch kein vom Goethe-Institut teuer fürs Festival gesponserter „Fußballexperte“…) Das Programm kommt gut an, aber Keis Kollege Alan aus Sao Paulo, ein fluffiger Slampoet mit Mütze, Hiphop-Attitüde und Folklorehemd wird natürlich mehr angehimmelt, woraufhin sich Kei mit einer lässigen Lesung vom Stuhl aus und der trockenen Bemerkung etabliert, er sei leider kein Performancepoet, werde aber trotzdem was vorlesen… Applaus, Applaus.

Später treffen wir die Jungs, die die Gedichte an die Treppen gemalt haben, im Regen. Es ist ein Ereignis mit Schirmen und Kameras (wie auf einer Beerdigung, meint Narjwan), ca. 20 Leute stehen auf der Treppe und die Jungs in Fußballtrikots lesen aufgeregt die von ihnen ausgewählten Verse vor. Meiner ist ein kleiner brauner Lockenkopf namens Flavio, vielleicht 13. Die lieben Kollegen des British Council bleibt demonstrativ bei Kei Millers Treppenabschnitt stehen und boykottiert lautstark und mit immer neuen Fotoaufstellungen die „Einweihung“ meiner und Narjwans Treppe. Dafür verstehen wir uns wirklich mit den ca. 8 Jungs und mit Extänzer Charles - und plaudern nach endgültiger Zerstreuung des Laufpublikums noch lange mit ihnen, ohne uns um den Regen zu kümmern – ist ja warm hier… Dann plausche ich im Backstagebereich mit dem Producer-Team und Adriana (die „Jana Thiele von Rio“) beginnt zu weinen, als ich die Truppe für ihre in der Tat irrsinnig große logistische Leistung lobe (Festival in Berlin war ja immer Stress und am Limit; Favela hier ist dreimal krasser – aber es funktioniert besser…). Zurück ins Hotel nehmen mich der Schriftsteller Luiz Ruffato und seine Freunde in ihrem Auto mit (die Literatur-Weltherrscherin des British Council Frau Nicklin hatte ungefragt meinen Platz im ansonsten voll besetzten Dichtertransporter eingenommen) - Ruffato ist nächste Woche in Berlin, einen Roman über Sao Paulo launchen, sagt er. Minuten später lese ich in meinen E-Mails, dass der freundliche deutsche Übersetzer (und mein Vermittler) Michael Kegler nächste Woche mit einem gewissen Ruffato auf Lesetour geht...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen