Santiago de
Chile - Donnerstag, 15. November
Von dort aus laufe ich der Nase nach durch die Stadt und stelle mit Entsetzen fest, dass mein nützlicher innerer Kompass, auf den sonst immer Verlass ist, hier überhaupt nicht funktioniert – beziehungsweise: genau spiegelverkehrt! Will sagen: Wenn ich 1 km nach Norden gehen will, lande ich 1 km im Süden, will ich nach Osten, lande ich im Westen – immer exakt spiegelverkehrt zu meinem eigentlichen Ziel… liegt es daran, dass die strahlende Sonne auf der Südhalbkugel andersrum steht? Oder richtet sich mein Orientierungssinn vielleicht instinktiv nach dem Magnetfeld der Erde und das ist hier auf Süd gepolt?? Ich habe keine Ahnung, aber es passiert mir an diesem Tag immer wieder, selbst wenn ich mir vornehme, vorausschauend spiegelverkehrt zu denken… verdammt, das gab‘s noch nie!! Egal, die Stadt ist angenehm und es gibt viel zu sehen, deshalb ist fast gleich, wo ich zwischendurch lande… Am Ende komme ich doch immer dort an, wo ich hin will.
Mit Hilfe netter Studenten und der Metro finde ich schließlich das Ziel meiner zweiten Etappe: Santa Lucia. Hier gibt es unter anderem einen ruhigen Schnickschnack-Markt der Einheimischen, den ich durchwandere und mir einen Riesenbecher köstlichen Fruchtsaft aus drei frischen Fruchtsorten gönne (deren Namen ich natürlich längst wieder vergessen habe…). Dann laufe ich hinüber zur Nationalbibliothek und dem schattigen Park voller hoher Palmen und Araukarien. Daneben erhebt sich pittoresk ein dschungelgrüner Hügel mit Treppen und Türmchen – Santa Lucia, das ist auch ein Park mit Felsen, Grasterrassen und riesigen Bäumen, eine duftende Oase in der Stadt. Ich plaudere mit ein paar herumlungernden studentischen Aktivisten, die seit Monaten gegen die teure Bildung protestierten und amüsanter Weise hoffen, dass ich ihr Sponsor werde...
Im unteren Bereich, dem Steinhaus an der Gasse, gibt es gleich hinter einer effektvollen kleinen Willkommens-Bar das niedrige, tunnelartige Esszimmer und dahinter die Küche. Hier hat der gesellige Neruda ständig Gäste aus aller Welt empfangen. Der ruhelose Poet, der im Laufe seines in jeder Hinsicht bewegten Lebens in zig Ländern gelebt hat, war definitiv ein Seefahrertyp: Überall gibt es Schiffslaternen und Muscheln und hölzerne Einrichtungsgegenstände, selbst die Zimmerformen erscheinen ganz wie auf einem Schiff. Auf der zweiten Ebene, in die man über ein paar Stufen durch den Garten den Hang hinauf erreicht, findet sich ein Kaminzimmer mit einem herrlichen Rundblick über die Stadt hinüber zu den majestätischen Kordilleren. Überall hängen Gemälde von Malerfreunden wie Diego Riviera bis hin zu einer Caravaggio-Replik eines sich im Kerzenschein räkelnden Kleinkindes (von dem Neruda angeblich behauptete, es zeige ihn als Säugling). Atmosphärisch erscheint mir das verwinkelte Anwesen wie eine Mischung aus Günter Grass‘ holzgeschnitztem Bauernhaus aus dem 16. Jahrhundert in Wewelsfleht – denn überall in Nerudas Haus knarren Dielen, wendeln sich enge hölzerne Treppchen, gibt es geschnitzte Borde und Türrahmen – und dem ostseehellen, pflanzenumwucherten Hanna-Höch-Häuschen in Berlin Heiligensee, mit Zimmerchen, hellen Fenstern und einer natürlich-maritimen Gestaltung, die Innen und Außen gleichermaßen zu einem Gesamtbild verwachsen lässt.
Auf der abgelegenen dritten Ebene des kleinen Anwesens, noch weiter den Hang hinauf, findet sich dann Nerudas schattiges Studio (auch hier, wie schon vorher, ein paar handgeschriebene Gedichtentwürfe im Original, aber unter dem Schreibtischglas), hier sieht man in einer Vitrine Nerudas gesammelte Preise – von Stalins "Lenin-Friedenspreis" bis hin zur Nobelpreismedaille für Literatur (die er im gleichen Jahr wie Willi Brand den Friedensnobelpreis bekam). An den Wänden altertümliche Stiche von Walfängerabenteuern an der Küste von Valparaíso sowie Fotos von Nerudas trauriger Beerdigung kurz nach dem Sturz Allendes. (Alvaro weißt mich auf einige alte Fotos von Idolen und Freunden Nerudas hin, neben Whitman, Majakowski und Rimbaud auch Marcel Marceau, der als persönlicher guter Freund selbst oft in diesem Haus Nerudas zu Gast gewesen sei. Alvaro meint, Marceau, der weltberühmte Pantomime, hätte anlässlich Nerudas Tod zum ersten und einzigen Mal auf der Bühne etwas gesagt.)
Ich trinke noch einen Kaffee im Schatten der Bäume von Nerudas arkadischem Santaigoer Liebesnest La Chascona und verabschiede mich dann von Alvaro. Unten in der Stadt verlaufe ich mich prompt wieder exakt seitenverkehrt, was ich erst nach zwei, drei Kilometern bemerke, sodass ich ausnahmsweise eines der schwarz-orangefarbenen Asphalt-Gaucho-Taxis zur Hilfe nehmen muss, um am späten Nachmittag für eine dringend nötige Pause in Julios Dichterdomizil in der Providencia zu gelangen … (hrgg!)
Julio kommt ziemlich spät und geschafft von der Arbeit, aber auch ich bin noch nicht fertig mit allen, was zu tun ist, dabei haben wir heute noch so viel vor: Neben den Übersetzungen, die fertigzustellen sind, sind wir heute noch zum Konzert von PANICO ein geladen - die sind hier in Santiago angeblich ja ein ganz großes Rock-Ding. Und wir kennen die Bassistin-Sängerin... Der Einfachkeit halber machen wir uns per Taxi auf den Weg zum Museum der schönen Künste, einem klassischen Museumsbau mit schmiedeeisernen Gittern und Löwen vor der Tür (nicht tatsächlich, aber es fühlt sich so an...). Unterwegs ruft Julio jemanden an und stell sein Handy auf laut: "Hallo wer ist da?" ruft eine alte Frauenstimme auf Deutsch; Julio antwortet etwas auf Spanisch und dann wird aufgelegt. "Das war sie." meint Julio. "Wer?" frage ich. "Margot." sagt Julio. "wenn alles klappt, sind wir Samstag abend in ihrem Haus." Margot Honecker, die Großmutter von Julios Dichterfreund Roberto Yanez.
Liebe Grüsse Martin...schöner Blog
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