immer noch Donnerstag, 8. November
Auf dem Gelände wimmelt es von Leuten aller Art, viele
tragen bedruckte T-Shirts mit dem Festival-Logo in verschiedenen Farben, offenbar
sind Hunderte Leute aus dem Viertel mit dem Festival beschäftigt: Technik,
Logistik, Verpflegung, geschäftig läuft man hin und her, redet und telefoniert
aufgeregt. Dazwischen Ambulanzen, Polizeiautos mit demonstrativ flimmernden Lichtern und Milizionäre Schusswesten im friedlichen Straßenplausch (die UPPs, die Favelapolizei von Rio, ist ein wichtiger Mitausrichter des Festivals - Kultur als Mittel der Zivilisierung...). Und Dekoration – überall sind Grünpflanzen in großen und kleinen
Kübeln aufgestellt, zwischen denen hier und da Banner mit dem fröhlich gelben
Design des Festivals drapiert wurden. Das Gelände auf dem Hügelpark ist
weitläufig und geschmackvoll hergerichtet. Was diesen Ort unvergleichlich
macht, ist der Blick über die gesamte Breite der Innenstadt zum
Meer. Die Bewohner dieser Favela haben von ihren Terrassen und Schlafzimmern
aus definitiv einen der aufregendsten Ausblicke dieses Planeten. In einer großen, bunt geschmückten Halle
zwischen der weinroten Art-nouveau-Villa und dem steilauf bebauten Favelaberg findet das Hauptprogramm des Festivals statt;
davor gibt es kleine Fensterkioske und ambulante Essensstände. Als ich die
Halle betrete, gibt es offenbar eine Pause im bereits angelaufenen Programm, Festivaldirektor
Toni begrüßt mich vom anderen Ende des Saals fröhlich durch das Mikrophon.
Die Eröffnung gestern habe unten
auf dem zentralen Platz einer anderen Favela stattgefunden, erzählt man uns,
tausend Kinder hätten getanzt und gesungen, lokale Rapper sowie der lybischen
Revolutions-HipHoper MC Swat seien aufgetreten. Für uns ist es nicht ganz leicht,
Informationen zu bekommen, aber im Backstagebereich empfängt uns Anna (frisch
aus Berlin nach Rio gezogen) als Managerin mit Material, Kaffee und Schnittchen.
(Auf dem Tresen steht neben der Cola eine Flasche ortsüblichen Zuckerrohrschnapses
- wie bei uns neben der Kaffeekanne die Milch.) Meine Begleiterin für den Tag ist
Anna-Clara, eine junge Sozialarbeiterin, die seit einem halben Jahr unter den
Kindern und Jugendlichen in den umliegenden Favelas für dieses Festival geworben
und sie mit diversen Bildungs- und Kulturprojekten in das Geschehen eingebunden hat –
eine Rechnung, die offenbar aufgeht, denn Scharen von Schulkindern und Teenager-Cliquen
durchstreifen das Gelände und beäugen fröhlich das Angebot.
Mit Festivalchef Toni und Dichter
Narjwan durchstreife ich das Gelände, wir werden diesem uns jenem vorgestellt
und fotografiert; die weinrote Villa entpuppt sich als Ausstellungraum mit
Buchladen – eine edle Kolonialvilla mit feinsten Hölzern, viel Luft und Licht;
wir finden auf dem handverlesenen Büchertisch auch den „Infamen Kuss“ von Toni,
ein Roman über US-amerikanische Afghanistanveteranen, die sich gegenseitig
sexuell demütigen (sagt er). Dann esse ich mit Anna-Clara an einem der Stände
würziges Hühnchen mit Nudeln und leckerer Gemüsesoße. In der Haupthalle läuft
mittlerweile das Programm weiter, die hochnäsige Susan Nicklin, Londoner Literaturchefin
des Bristish Councils, stellt der Autorin Yvette Edwards angesichts
des jungen Publikums völlig deplatzierte very sophisticated Fragen, aber als
Yvette eine Passage über erste Liebe aus ihrem Roman vorliest, lachen die
Teenagerjungs unter ihren Übersetzungskopfhörern immer wieder kollektiv laut
und gequält auf. Merke: Englisch ist bei Brasilianern nicht unbedingt Standard
(andere Sprachen noch weniger); überraschenderweise ist mir das in diesem
(amerikanischen) Fall aber sympathisch.
Dann folgt eine Programmrunde über
Fußball mit einem bekannten brasilianischen Journalisten und als vom Goethe-Institut
großartig präsentierten Gastexperten „der Meister“ (so alle portugiesischen
Mitwirkenden wiederholt und demonstrativ) Thomas Brussig (gütig und mild
lächelnd). Über den 90 minütigen Versuch, dem sich leerenden Saal zu erklären,
dass Fußball und Literatur vieles gemeinsam hätten muss nicht mehr gesagt werden als dass der
Brasilianer Geschichten von Homer erzählte, während Brussigs zentrale Botschaft
war, dass der Fußball uns einzigartiges Glückmomente schenkt, wie wir sie in
der Literatur nicht finden können. (Zum Ende hin gesteht er dann doch noch halbwegs
ein, dass er „kein besonders guter“ Fußballer sei). Im Gespräch mit
Anna-Clara, die aus dem Programmverlauf Kontrollfragen für ihre Favela-
Jungsgruppen erarbeitet, mit denen am Ende des Festivals der Gewinner eines
3000-Real-Preises ermittelt werden soll, verpasse ich das verkleckerte Ende des
Fußball-Beitrags, es gab offenbar nicht einmal einen ordentlichen Schlussapplaus.
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