Rio, Sonntag, 11 November
Der erste uneingeschränkt sonnige Tag in Rio. Ich
fahre mit dem Spanier an die Copacabana. Das östliche Ende, genannt Leme,
erweist sich als gut erreichbar und perfekt für einen kleinen Strandausflug mitten
im Stadtalltag: Man kann mit der Metro oder dem Taxi vorfahren. Der Sand ist
hier hell und weich wie an der Ostsee, aber durch die Sonne ungleich heißer.
Der Strand ist mindestens fünfzig Meter breit: Nach Westen in zieht sich die
Stadt mit einer weißen Promenade aus Wohn- und Geschäftshäusern in sanft
geschwungenen Bogen, nach Osten begrenzt ein buckeliger Felsenberg voller
Pflanzen und Palmen das Ende der Copacabana.
Die Sonne brennt, es weht ein sanftes
Lüftchen, am Himmel hier und da ein Federwölkchen. Die Cariocas besiedeln den Strand gelassen und fröhlich, jeder wie er mag. Hier
und da gibt es kleine Kioske oder Sportfelder. Weil das Wasser recht kühl ist,
geht kaum jemand schwimmen, nur ein paar Kinder toben am Wassersaum, weiter
draußen stehen einzelne Brettsurfer mit Stechpaddeln in Neoprenanzügen auf der
sanften Dünung. Der Spanier und ich laufen mit nackten Füßen die Küstenlinie
entlang zum Ostfelsen und steigen dort auf eine kleine Terrasse, um den
Ausblick auf die elegant in die Stadt geschwungene weite Bucht zu genießen.
Hinter dem Strand die weißen Gebäude einer Großstadt, dahinter die romantischen
Kulissen dunkler Felsenbuckel und tiefgrüner Berge - ein Mittag wie aus einem
Bilderbuch. Von der der Terrasse aus springen Schwimmer und Taucher ins Meer,
es wird geschwatzt und geangelt. Wir trinken an einem Strandkiosk den erfrischenden
Saft unbekannter Früchte und setzten uns dann eine Weile in den Sand.
Erstaunlicher Weise gibt es hier nicht ein Fitzelchen Müll, aber auch keinerlei
Muscheln und keine Möwen oder andere Seevögel; die weite, lichtdurchflutete
Bucht gehört allein den Menschen und der Landschaft.
Als wir mit dem Taxi weiter zum Festivalgelände fahren wollen, lernen wir ein Problem kennen, das typisch für Rio zu sein scheint: Weil es für unsere Favela keine klare Adresse gibt, finden wir keinen Taxifahrer, der uns dorthin fahren will… nicht, weil sie Angst vor den Leuten der Gegend hätten, sondern weil St. Teresa aus extrem steilen Hügel mit Kopfsteinpflasterstraßen besteht und man sich im Labyrinth der engen Einbahnstraßen dort stundenlang durch den Verkehr quälen kann, ohne auch nur in die Nähe des Ziels zu gelangen… zudem können wir den Weg nicht beschreiben, und selbst wenn: Die Taxifahrer hier sprechen kein Englisch… Wir müssen wohl oder übel zurück ins Hotel und - da wir keinen vom FLUPP-Team erreichen können, der uns abholen könnte - die Rezeptionisten bitten, für uns einen geeigneten Taxifahrer zu finden, was etwa eine Stunde und etliche ungeeignete Kandidaten verbraucht…
Oben auf dem Festivalgelände gehört der letzte Programmtag den einheimischen Literaturstars. Ich mache im Autorenzimmer ein paar Bekanntschaften und lasse mir dann an meinem Lieblingsstand ein frisches Mittagessen vor dem atemberaubenden Panorama der wimmelnden Sonnenbucht von Rio zubereiten. Mit den Literaturmädels und ein paar Dichtern vom British Council steigen wir dann hinauf in die Favela (Prazeres nennen sie sich: Freude, Vergnügen, Zufriedenheit, Befriedigung, pleasure…). Drei schüchterne Teenager-Jungs in Fußballtrikots haben eine Art prototouristischer Initiative gegründet, die Fremde durch ihr Viertel auf dem steilen Hügel von St. Teresa führen soll – wir sind vermutlich ihre ersten Kunden. Die Erklärungen der Jungs sind noch sehr mager und erklären wenig, doch die Route, die sie uns durch ihre Favela führen, ist spektakulär. Neben immer erstaunlicheren Höhenblicken auf das landschaftliche Drama von Rio (gesegnet vom Erlöserchristus, der von einer benachbarten Bergspitze nebenan herübergrüßt) ist es vor allem die genial in einander geschachtelte Architektur unzähliger kleiner Steinhäuser mit Terrassen, Durchgängen, Balkonen, Brückchen, kleinen Plätzen oder Brunnen – all dies ohne irgend eine Straße oder sonstige Infrastruktur… diese postmoderne Siedlung mutet an wie die alten Bergdörfer auf den Hügeln von Elba: Verwinkelt, gemütlich, sauber und mit sensationeller Aussicht. Nur alt, krank oder schwach darf man hier nicht sein – jeder Stein, jede Schraube, jeder Tisch und jede Flasche Wasser müssen über Hunderte Meter mühsam das verwinkelte Treppenlabyrinth hinaufgetragen werden.
Als wir mit dem Taxi weiter zum Festivalgelände fahren wollen, lernen wir ein Problem kennen, das typisch für Rio zu sein scheint: Weil es für unsere Favela keine klare Adresse gibt, finden wir keinen Taxifahrer, der uns dorthin fahren will… nicht, weil sie Angst vor den Leuten der Gegend hätten, sondern weil St. Teresa aus extrem steilen Hügel mit Kopfsteinpflasterstraßen besteht und man sich im Labyrinth der engen Einbahnstraßen dort stundenlang durch den Verkehr quälen kann, ohne auch nur in die Nähe des Ziels zu gelangen… zudem können wir den Weg nicht beschreiben, und selbst wenn: Die Taxifahrer hier sprechen kein Englisch… Wir müssen wohl oder übel zurück ins Hotel und - da wir keinen vom FLUPP-Team erreichen können, der uns abholen könnte - die Rezeptionisten bitten, für uns einen geeigneten Taxifahrer zu finden, was etwa eine Stunde und etliche ungeeignete Kandidaten verbraucht…
Oben auf dem Festivalgelände gehört der letzte Programmtag den einheimischen Literaturstars. Ich mache im Autorenzimmer ein paar Bekanntschaften und lasse mir dann an meinem Lieblingsstand ein frisches Mittagessen vor dem atemberaubenden Panorama der wimmelnden Sonnenbucht von Rio zubereiten. Mit den Literaturmädels und ein paar Dichtern vom British Council steigen wir dann hinauf in die Favela (Prazeres nennen sie sich: Freude, Vergnügen, Zufriedenheit, Befriedigung, pleasure…). Drei schüchterne Teenager-Jungs in Fußballtrikots haben eine Art prototouristischer Initiative gegründet, die Fremde durch ihr Viertel auf dem steilen Hügel von St. Teresa führen soll – wir sind vermutlich ihre ersten Kunden. Die Erklärungen der Jungs sind noch sehr mager und erklären wenig, doch die Route, die sie uns durch ihre Favela führen, ist spektakulär. Neben immer erstaunlicheren Höhenblicken auf das landschaftliche Drama von Rio (gesegnet vom Erlöserchristus, der von einer benachbarten Bergspitze nebenan herübergrüßt) ist es vor allem die genial in einander geschachtelte Architektur unzähliger kleiner Steinhäuser mit Terrassen, Durchgängen, Balkonen, Brückchen, kleinen Plätzen oder Brunnen – all dies ohne irgend eine Straße oder sonstige Infrastruktur… diese postmoderne Siedlung mutet an wie die alten Bergdörfer auf den Hügeln von Elba: Verwinkelt, gemütlich, sauber und mit sensationeller Aussicht. Nur alt, krank oder schwach darf man hier nicht sein – jeder Stein, jede Schraube, jeder Tisch und jede Flasche Wasser müssen über Hunderte Meter mühsam das verwinkelte Treppenlabyrinth hinaufgetragen werden.
Die Favelabewohner empfangen uns
freundlich, aber schüchtern distanziert – ihnen ist diese Art des recreational slumming (Douglas Coupland
in Generation X) offenbar nicht
unwillkommen, aber suspekt. Oben auf der Bergspitze angekommen, wird uns klar,
das dies eine seit zwei Jahren befriedete Favela ist: Die Sondereinheiten der UPP haben die Kiezmafia der ansässigen Drogenbosse mit martialischen Handstreichen ausgemerzt und MTV hat zur Belohnung einen schicken
öffentlichen Sportplatz für Basketballspiele und ähnliches spendiert. Der umzäunte Platz
ist bevölkert mit Jugendgruppen aller Art, Spiel und Gesellschaft sind hier
nahezu identisch. Dahinter dann zu ersten Mal ein kleiner Hang mit Geröll und
Müll; ansonsten sind die Brachen an den „zu steilen“ Stellen hier mit Bananenbäumen
und medizinischen Kräuterstauden bepflanzt. Die Mauern und Bauten dieser
Siedlung erscheinen wie ein Tagtraum von Escher, wir kraxeln und steigen und
treten hindurch – überall erwarten uns kleine Wandgemälde und andere hübsche
Überraschungen. Unter einen Brückenpfeile dann entdecke ich mein eigenes
Gesicht als Graffiti. Und anderswo stehen Gedichte auf den Stufen, die man beim
Heraufsteigen Zeile für Zeile liest: Wer hätte gedacht, dass ein paar Verse aus
„Rabet“ mal auf diese Weise in eine Favela von Rio gelangen: „Wie lange solln
wir uns vertrösten / auf Paradiese, die dann irgendwann / mal kommen sollen
während leise / und ungenutzt die beste Zeit verrann / verrann … (Martin Jankowski,
sekundenfest)“ – steht da, wo die schwerbeladenen Favelabewohner während des
Aufstiegs verschnaufen und ein Schwätzchen halten.
Als wir zurück auf dem Festivalgelände
sind, wird es Zeit für den Abschied. Ich schüttle Hände, sage Dank und umarme
alle neuen Freunde und Bekannten, die ich finde, dann geht es mit dem
Dichter-Van zurück zum Hotel. Um 19 Uhr holten mich Aldo und Simone, meine
Übersetzer ins brasilianische Portugiesisch, ab und wir gehen ins Nova Capela, ein gemütliches, nicht ganz
billiges Restaurant in der Lapa. Aldo kommt im weinrot-weiß gestreiften Trikots
seines Lieblingsfußballvereins, der an diesem Tag gerade die Meisterschaft
gewonnen hat (verzeih mir Aldo, auweia, ich hab schon wieder vergessen, welcher
es war… unverzeihlich für brasilianische Verhältnisse, natürlich!). Wir essen
gut und nehmen uns Zeit über unsere Familien zu plaudern und die Möglichkeiten
gemeinsamer Veröffentlichungen und künftiger Kooperationen zu durchdenken. (Das
„halbe Lamm“ - sic! - mit Brokkolireis, das ich bekam, war köstlich…) Dann zurück durch
die dunkle, aber belebte Lapa (am Wochenende sind die Straßen nahe des
Aquädukts wegen der vielen Partys für den Verkehr komplett gesperrt) – und vor der
Hotellobby tausend Umarmungen, auch mit den Dichtern und Mitwirkenden des
Festivals – es ist Zeit, Rio Adeus zu
sagen, denn in der Nacht um drei Uhr geht mein Flieger, der mich über Sao Paulo
nach Santiago de Chile auf die andere Seite Südamerikas bringen wird ...
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