Samstag, 10. November 2012

Brasilienblog (5)


(noch Freitag, 9. November...)
Die große FLUPP-Halle ist - für uns! - diesmal gut gefüllt. Im Gegensatz zu gestern sind neben den Jugendgruppen aus dem Viertel auch viele Erwachsene und etliche Weiße (auf hahaha-Brasilianisch: Nicht-ganz-so-Schwarze) anwesend. Direktor Toni als Moderator stellt uns drei vor und verwickelt uns in eher allgemeine Geplänkel über Dichten in repressiven Gesellschaften, keine Ahnung wieso er in der kurzen Bühnenzeit  unbedingt mit mir über die NVA und meine Situation während der Armeezeit reden will. Narjwan bietet kehlige Lyrik auf arabisch. MC Swat ist erschreckend schüchtern und traut sich kaum klar zu antworten oder eine halbwegs ausdrucksstarke Performance zu geben. Ich lese zumindest zwei der vier übersetzten Texte, und auch wenn es keine Möglichkeit gab, die verabredeten zwei Songs zum besten zu geben: Es gibt mehrfach Szenenapplaus und etliche (vorbereitete?) Fragen aus dem Publikum. Alles in allem bis zum Schluss eine lebendige Veranstaltung. Hinterher spricht mich ein ehemaliger deutscher Entwicklungshelfer an, der heute nahe dem Mauerparks lebt und sich für das Gedicht darüber bedankt. Ein deutschstämmiger Carioca-Fotograf von National Geographic (namens Hiller) bespricht mit mir die Entwicklung in Berlin und ein rührendes Team eines  Favela Uni TVs interviewt mich mit reichlich kruden, aber engagierten Fragen (die Art des Ablesens erinnert entfernt an den Franzosen Alfons aus dem deutsche Spaß-TV, aber es ist ernstgemeint).
  Dann taucht Toni auf und hat plötzlich eine Idee: Er führt mich eine Gasse hinauf in die Favela und stellt mich Charles vor, der seinen Job als Profitänzer aufgab, um sich um die Jugendlichen dieser Favela zu kümmern und dort gerade auf einer Treppe mit einigen Bewohnern spricht. Und dann bitten sie mich, die steile Treppe hinauf auf den verwinkelten Favelahügel genauer zu betrachten… Auf jeder zweiten Stufe sind wie mit Schreibmaschine irgendwelche portugiesischen Zeilen geschrieben. Es dauert eine Weile, bis ich verstehe, was ich da sehe: Auf die steile Weggabelung hinauf hat jemand eine Passage aus der portugiesischen Übertragung meines Leipziger Songs „sekundenfest“ (von 1987) geschrieben. Man liest das Gedicht also, während man Schritt für Schritt den beschwerlichen Weg aufwärts nimmt – wie es, während ich die Szene betrachte, etliche Favelabewohner mit schweren Lasten beladen tun - und das funktioniert ungefähr folgendermaßen: sekundenfest (erste Stufe) / martin jankowski (zweite Stufe aufwärts) / wie lange solln wir uns vertrösten (Schritt aufwärts) / auf paradiese, die dann irgendwann (Schritt aufwärts)/ mal kommen sollen während leise (nächster Schritt aufwärts) / und ungenutzt die beste zeit verrann (Schritt aufwärts) / verrann … Ich bin wirklich überrascht und beeindruckt von der Wirkung des Textes in diesem Zusammenhang, dessen brasilianisch-portugiesische Variante dankenswerter Weise Carlos Abbenseth aus Rio, der legendäre Übersetzer von Musils "Mann ohne Eigenschaften" und vielem anderem, geschaffen hat – an dieser Stelle dieser Favela diese Passage, das ist wirklich stark. (Wenn der 22-jährige Martin, der diese Zeilen damals im trüben Osten bei Kerzenschein im Leipziger Rabet schrieb, nur ahnen könnte, wo und wie diese Zeilen eines Tages noch auftauchen würden…)

Der Fotograf und Anna-Clara sowie ein paar Bewohner kommen hinzu, wir halten ein kleines Palaver auf der Treppe und machen Fotos. Charles fragt mich, ob ich nicht Lust hätte, mich morgen mit den Kindern und Jugendlichen zu treffen, die den Text ausgesucht und auf die Treppen gemalt haben. Also habe ich eine Verabredung...

Abends fährt uns Toni mit seinem neuen Honda durch die riesige Stadt, wir gondeln die Copacabana entlang nach Ipanema, aber außer vielen Lichtern und breiten Straßen ist nicht viel zu sehen. Narjwan und Toni diskutieren stundenlang darüber, was alles in der Welt eigentlich arabisch ist (laut Narjwan fast alles) und was in welchem Land der Erde wie viel kostet. Irgendwann nach zehn muss ich deutlich machen, dass ich am verhungern bin, Narjwan hat angeblich schon gegessen. Die Restaurants, zu denen uns Toni bringen will, sind alle überfüllt, keine Chance. Also fährt er uns durch die halbe Stadt zurück in ein Buffethaus. Das Auto wird vom Einparkdiener weggefahren, wir treten in einen großen Saal mit festlich gedeckten Tischen, hier und das feiert eine Gesellschaft. Wir zahlen einen festen Preis, dann können wir uns am mehrere Tische breiten exotischen Gemüse- und Beilagenbuffet bedienen und ab sofort treten im Sekundentakt Kellner mit großen Bratenspießen an unseren Tisch, um uns von den verschiedensten köstlichen Fleischsorten und Bratenzubereitungen jeweils einige Scheiben auf den Teller zu säbeln: Binnen kürzester Zeit sind Toni und ich am schmatzen und beinahe auch am platzen – ein Paradies für Fleischfreunde, denn die Braten sind einer köstlicher und spezieller als der andere…  (das wäre echt ein Erfolgsmodell für den fast monokulturell veganen Prenzlauer Berg, hm?) 
  Narjwan sitzt traurig neben uns und weigert sich auch nur ein Glas Wasser zu trinken. (Ich vermute, er hält diese hochedle Schweinebraterei für absolut nicht-halal und völlig dekadent verrucht, aber er verneint dies energisch; er hätte schon gegessen.) Als wir, völlig überfüllt von all den hervorragenden und seltenen Fleischköstlichkeiten, schließlich aufgeben, gehen wir Narjwan zuliebe einige hundert Meter durch den einsetzenden Nieselregen zu einer Saftbar, um am Tresen noch ein paar wirklich leckere brasilianische Säfte aus Früchten mit mir unbekannten Namen zu kippen (sic).

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