Montag, 19. November 2012

Chile Blog (6 - Finale)


Santiago – Samstag/Sonntag, 17./18. November



Der Abschied kommt standesgemäß: Abends machen wir uns ausgehfein und holen Ingrid in ihrer kleinen Wohnung um die Ecke ab. Dort entdecke ich, dank eines Posters in ihrem Arbeitszimmer, dass sie der „hochschwangere“ Star eines offenbar recht grausamen chilenischen Horrorstreifens namens „BabyShower“ war… (Der es auch in Deutschland zu einigem Ruhm geschafft haben soll… aber definitiv kein Film für werdende Väter & Co, warnt sie mich.) Im wirklichen Leben ist an Ingrid nichts Gruseliges, sie beherrscht vielmehr die Kunst, mit kleinen Dingen äußerst effektiv eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. 
  Eine Freundin von ihr kommt mit dem Taxi: Alicia (Rodriguez), auch eine Schauspielerin, die uns fröhlich begrüßt als würden wir uns schon ewig kennen. Gemeinsam fahren wir weiter ins Haus von Felipe (dessen Frau eine erfolgreiche Filmproduzentin ist) der heute Geburtstag feiert und mit der ganzen Clique auch mich eingeladen hat. Tatsächlich treffe auch ich Bekannte, darunter einen der Künstler aus dem Rapa Nui von gestern Abend und auch den Gitarristen von PANICO, der mir berichtet, dass er jetzt in Paris lebt und mit seiner neuen englischen Freundin gerade einen Sohn bekommen hat. Felipes Wohnung ist in einer Mischung aus gemütlich und modern eingerichtet, definitiv ein Künstlerhaus von nicht gerade armen Leuten. In der Küche bereitet man Melissen-Caipirinhas zu. Und auf dem zur Wand geräumten Esstisch steht ein kaltes Buffet mit Guacamole und vielen kleinen hausgemachten Leckereien chilenischer Art bereit. Der Hausherr steht im Wohnzimmer persönlich an den Turntables und legt fluffigen Alternative-Rock aus  Chile auf. Auf den Tischen stehen Knabbereien aus einer mir unbekannten kleinen Nussart und – gute Idee – nur kurz blanchierter grüner Spargel mit Dipp als Fingerfood zum Naschen bereit … Wer will, bedient sich bei Rotwein, Sekt und Whiskey an der Hausbar. Es stellt sich heraus, dass Ingrids Schaupielerkollegin Alicia erst 20 Jahre alt ist, aber bereits in zwei großen Filmen mitgespielt hat: In ihrem letzten Erfolg, der coming-of-age-Geschichte „Young &Wild“, die wohl auch auf die letzte Berlinale eingeladen war, spielte Ingrid: Ihre Tante … Wir trinken Sekt & Whiskey, besprechen die Bedeutung der Berlinale für die Filmkunst dieser Welt (Fazit: wie die Stadt Berlin selbst - künstlerisch/inhaltlich sehr schön, ökonomisch eher unbedeutend) und vergleichen wieder einmal Berlin und Santiago …

Gegen Mitternacht ist es Zeit für den Abschied von der Künstlerclique mit vielen guten Wünschen, Küssen und Umarmungen. Dann schnappt mich Julio und wir fahren mit dem Taxi in die Innenstadt zu einer noch größeren Party: In der angesagten „Clinic“ findet die interne Eröffnungsparty für das hauptstädtische „Urban Interventions Festival“ statt (an dem sich in der kommenden Woche auch Casa Grande mit einer Überraschungsaktion beteiligen wird, deshalb stehen wir auf der Gästeliste). Auf drei Etagen trudeln allmählich die Verrückten und Künstlertypen Santiagos ein, um auf Kosten des Festivals zu tanzen und zu trinken, was das Zeug hält… Die Partys gehen in Santiago noch später los als in Berlin, meint Julio, meistens wird erst gegen 4 Uhr der Höhepunkt der Stimmung erreicht. Die „Clinic“ ist ein Club, der gerne so cool wie das Tacheles wäre und deswegen allerlei schräge Graffitis an den Wänden des Treppenhauses hat, doch das Mobiliar und die sonstige Einrichtung sind gediegenes altes Europa: Schwere Eiche und Marmorfußböden. Keine unangenehme Mischung, finde ich. Cristobàl und ein paar andere Freunde von casa grande sind auch da; es wird lang und breit über alles und nichts palavert und ich probiere ein erschreckend scharfes Getränk aus einer Sektschale: Pisco sour mit grünem Chili… (diese Spezialität des Hauses ist allerdings eher ein Dessert für Freunde feurigster Saucen als ein Cocktail); Julio gönnt sich am Ende einer langen Woche demonstrativ eine dicke Zigarre.  Der DJ gibt sich große Mühe, der unentschlossenen Feier-Meute mit krasser Musik einzuheizen, doch ehe die Party endlich etwas Fahrt aufnimmt, werde ich endgültig müde - und lasse mir kurzentschlossen von Julio ein Taxi besorgen (gut so, denn der erste „staatliche“ Taxifahrer wollte tatsächlich eine extreme Summe von mir und konnte natürlich „completely no English“) … adios Clinic, adios unermüdliche Künstlerkreise von Santiago! Aber im Bett ist es auch schön.

Am nächsten Morgen hole ich mir warme chilenische Weißbrötchen vom Castano gegenüber und mache mir einen  großen guatemaltekischen Kaffee. Wie versprochen steht Julio tatsächlich pünktlich halb zehn Uhr auf der Matte, obwohl er in der letzten Nacht allerlei Whiskey & Cigars zu sich genommen haben muss und angeblich noch bis nach vier in der „Clinic“ geblieben war. Wir frühstücken, unterbrochen von beiderseitigen Alltagstätigkeiten, gemeinsam stehend in der Küche; ich halb in der andisch brennenden Morgensonne auf dem Balkon, um mich für den Heimweg noch mit südlichem Licht aufzuladen. Dann brausen wir mit dem himmelblauen Suzuki über den Highway zum Flughafen von Santiago und ziehen Fazit…
Für mich ist Chile, oder zumindest Santiago, ein erstaunlich europäischer Ort, der geistig näher am alten Europa denn an Nordamerika zu liegen scheint. Das Künstlernetzwerk hier ist goldwert, denn es ist weniger von Konkurrenz und Gleichgültigkeit geprägt als in Berlin (dafür ist aber auch das kulturelle Angebot kleiner). Mich wundert aber, dass alle, die ich traf, so schlecht über Santiago und so begeistert von Berlin redeten - und argwöhne, dass es nichts als die üblichen Projektionen sind, die das Gras in Nachbars Garten stets grüner erscheinen lassen, als das eigene; denn mir hat es in Santiago ganz gut gefallen. (Julio ist nicht einverstanden mit dieser Einschätzung.) Es ist vielleicht nicht der einzige Ort aller Träume, aber als Exil wäre Santiago zumindest für Ostdeutsche eine perfekte Wahl: Klima und Gesellschaft sind recht ähnlich, aber doch ein wenig angenehmer; eine gute Mischung aus Bekanntem mit ein wenig Exotischem - und Deutsche genießen hier, auch wegen der Einwanderer, einen guten Ruf. Margot jedenfalls hat nicht den schlechtesten Ort für ihre Rente erwählt – auch wenn es Julio letztlich leider nicht geschafft hat, ihren Enkel Roberto zu überzeugen, dass man vor mir keine Angst haben muss… das Treffen muss, wenn überhaupt, irgendwann in Berlin stattfinden. (Es heißt aber, Roberto Yanez bereite derzeit zwei Veröffentlichungen in Deutschland vor.)
  So überfliege ich - nachdem mir Julio das Versprechen abgerungen hat, dass wir aus diesem Kontakt etwas entwickeln und ich baldmöglichst, gern auch mit Frau und Kind, wiederkomme - den Hügel mit Margots kleinem Haus am Fuße der Kordilleren schließlich mit einem dicken Jet der Air Canada in Richtung Buenos Aires.
                                                                                                                                                                  .

    Muchas gracias, Julio, por todo...

1 Kommentar:

  1. Zum Thema bitte auch die Fortsetzung vom November 2013 in Berlin beachten: http://butterflywar.blogspot.de/2013/11/on-fiday-nov-1st-german-chilean-poet.html

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