Samstag, 10. November 2012

Brasilienblog (4)


Rio, Freitag, 9. November

Sechs Uhr morgens Ortszeit wurde ich wach, fand endlich eine Stunde zum Schreiben und fuhr dann hinunter zum Frühstück. 8:30 Uhr startete ich dann mit einigen Festivalteilnehmern in einem Kleinbus zu unserer ersten offiziellen Erkundungstour. Die Straßen waren nass von einem nächtlichen Regen (was einen wunderbaren Geruch nach Meer und tropischen Pflanzen ergab), der Himmel war bedeckt, aber es war warm bei klarer Luft. 
  Mit dem Van wurden wir in die Nähe des Zuckerhuts gefahren, der an einer Bucht steht und ein beeindruckend glatter, dunkelbrauner Felsblock von mehreren hundert Metern Höhe ist, der mich eher an einen riesigen versteinerten Zahn eines Urzeitmonsters erinnert. In der Steilwand hingen aber tatsächlich zwei Irrsinnige, die die scheinbar spiegelglatte Oberfläche des Felsens mittels Eisenhaken und Seilen bezwingen wollten (vermutlich brauchten sie, falls erfolgreich, dafür mehrere Tage). 

Mit busgroßen Seilbahnkabinen überwanden wir die erste Etappe bis zu einem Zwischen-Peak über eine atemberaubend grüne Küstenschlucht, dort hüpften und pfiffen plötzlich zig verschiedene Tropenvogelpaare in majestätischen Bäumen umher; dann ging es mit einer steileren und noch himmelfahrtsmäßigeren Kabinenbahn hinauf bis auf den Gipfel. Die Aussicht von dort oben kann eigentlich kaum von irgend einer Stadt auf diesem Planeten übertroffen werden: Rio ist ein tausend Voluten schlagender weißer Häuserschaum zwischen grünen Buckeln und blauen Lagunen - unter uns felsige Buchten und Strände, grüne Hügel und Häfen, Brücken und Stadtgewimmel in immer neuen Bögen und Formen, ringsum soweit das Auge reicht und darüber ein freundlicher Himmel, man kann sich kaum satt sehen.
  Zurück am Fuß des Felsens in einer Grünanlage ein Militärdenkmal für irgendeinen siegreichen General, ästhetisch könnte es ein Sowjetdenkmal sein. Die Vögel hier unten lieben offenbar die stille Bucht, die zwischen schroffen Felswänden liegt. Mächtige tropische Bäume breiten ihre Äste. Kei und ich beobachten gelbgrüne, bachstelzenähnliche Vögel (mit elegantem schwarzen Lidstrich) sowie kleine grüne Papageien (ganz ähnlich denen, die mit wildem Gekreisch die Straßenschluchten im Hafenviertel von Barcelona durchsegeln) bei ihren munteren Familienangelegenheiten. Der kleine Strand hier hat grobe, organgebraune Körner, das Atlantikwasser ist kühl (es gibt, sagt man uns, eine Strömung aus dem antarktischen Süden); man kann frische Kokosnüsse mit dem Strohhalm auszutschen, aber es sind nur sehr wenige Leute hier, denn der Tag ist ohne direkte Sonne und für hiesige Verhältnisse zu kühl zum Baden (dennoch werde ich am Ende des Tages einen leichten Sonnenbrand auf Gesicht und Armen feststellen müssen). 
  Mit dem Van brechen wir auf in die Hügel von St. Teresa, kurz vor dem Ziel bleiben wir in einer der vielen Kurven zwischen den steinernen Mauern stecken – Graffitikünstler haben den Abschnitt mit einem weitläufigen Gerüst versehen und arbeiten in größeren Scharen an einem langgestreckten Wandbild; es gibt Verkehrsregulierer in Signalwesten, wir müssen, ganz an den Straßenrand gequetscht, einige entgegenkommende LKWs und Busse in jeweils minutenlanger Millimeterarbeit passieren lassen.  
  An den T-Shirts einiger Graffitimaler wird jedoch erkennbar, dass wir uns bereits in der Nähe des Festivalgeländes befinden; schließlich springen wir aus dem Van und gehen unsere Wege auf dem belebten mittäglichen Festivalgelände. Toni berichtet, dass meine bevorstehende Lesung von Rios größter Tageszeitung GLOBO als ein Highlight des Festivals angekündigt sei. Im Backstagebereich lerne ich die beiden Dolmetscherinnen für das Event kennen, später treffe ich auch Narjwan aus Palestina und MC Swat aus Libyen wieder, mit denen ich als „Dichter zwischen Bomben und Spionen“ präsentiert werden soll, und wir machen uns gegenseitig über unser bühnenschickes Outfit lustig – wir sind definitiv das bestangezogenste Trio dieses Festivals bislang mit Hemden und geputzten Schuhen (der smarte MC gar im edlen Pseudo-Armani-Anzug). Dann finde ich Aldo, meinen Übersetzer, im Saal - und nach mehreren hochkomplexen Backstage-Diskussionen mit Toni und den netten Dolmetscherinnen darf er seine Übertragungen meiner Gedichte tatsächlich von der Übersetzer-Blackbox aus selbst (für das Kopfhörer benutzende portugiesischsprachige Publikum) vorlesen. Zum Ausdrucken der Lesetexte führt mich Toni in das Produktionsbüro am Aufgang zur Favela – es ist das stickige Hinterzimmer einer Garküche, wo vor wackeligen Ventilatoren das überarbeitete Produktionsteam auf Plastikhockern kauert und man auf Kisten tippt und telefoniert…

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